Sieben Tore und ein verzweifelter Gastgeber

Trauer in Brasilien und Freudensstürme in Deutschland: Beim WM-Halbfinale überzeugte die deutsche Mannschaft

  • Lesedauer: 5 Min.
Das 7:1 gegen Brasilien wird als Jahrhundertereignis in die WM-Geschichte eingehen. Die deutschen Fußballer bremsen sich nach dem weltweit bestaunten Giganten-Auftritt jedoch selbst. Im großen Finale geht es um noch Größeres.

Santo André. Der Sieg für die Ewigkeit löste bei den deutschen Fußball-Heroen spontan gewaltige Glücksgefühle aus - unsterblich aber werden erst Weltmeister. Diese Losung gaben Joachim Löw und seine zur Krönung entschlossenen Spieler nach der magischen Halbfinal-Nacht mit dem weltweit bestaunten 7:1-Torfestival aus, das die krachend gescheiterten Brasilianer in eine Schockstarre stürzte.

»Nee, nee, nee, wir haben uns jetzt gegenseitig schon gebremst«, berichtete der nun alleinige WM-Rekordschütze Miroslav Klose nach dem Wahnsinnsspiel gegen den gedemütigten Rekordweltmeister, das als ein Jahrhundertereignis in die Fußball-Geschichtsbücher eingehen wird. »Weltmeister ist noch niemand im Halbfinale geworden«, konterte der zweifache Torschütze Toni Kroos verfrühte Jubelarien.

Auf dem Rückflug aus Belo Horizonte richtete DFB-Präsident Wolfgang Niersbach ein großes »Dankeschön« an alle Beteiligten. »Das ist ein historisches Ergebnis, das ist keine Übertreibung. Ihr könnt euren Kindern und Enkelkindern noch in Jahren und Jahrzehnten erzählen: Damals, 8. Juli 2014, in Belo Horizonte, ich war dabei. 7:1 gegen Brasilien. Noch in Jahrzehnten wird man fragen: Wie war das möglich?«

Trotzdem empfahl auch der Verbandschef Mäßigung: »Wir flippen alle nicht aus, obwohl auch ich dies gerne möchte.« Konzentrierte Arbeit sei auch an den letzten Turniertagen gefordert. »Um dann am Sonntagabend gegen 19 Uhr Ortszeit im Maracanã dieses goldene Ding in die Höhe zu halten.«

So abgeklärt, wie seine gereifte Elf auf dem Rasen das in Panik geratene Gastgeber-Team demontiert hatte, blieb auch Löw nach dem größten Sieg in seiner achtjährigen Amtszeit als DFB-Chefcoach. »Man sollte das Ergebnis jetzt auch nicht zu hoch hängen«, erklärte der 54-Jährige nach dem höchsten Sieg in einem WM-Halbfinale überhaupt. »Wir müssen jetzt Demut haben und uns mit aller Ruhe vorbereiten auf das Finale«, sagte Löw und mahnte mit Blick auf die erhoffte Krönung zum Weltchampion am Sonntag (21.00 Uhr/ARD) in Rio de Janeiro gegen Argentinien oder Holland: »Niemand sollte sich unbesiegbar fühlen.«

Diese Gefahr scheint kaum vorhanden bei einer Generation mit Veteranen wie Klose, Lahm oder Schweinsteiger, die von knapp verpassten Triumphen genug hat. »Wir sind zweimal im Halbfinale bei einer Weltmeisterschaft ausgeschieden, zweimal knapp. Die Mannschaft hat sich das einfach erarbeitet«, urteilte Kapitän Philipp Lahm. »Wir wissen, dass wir noch nicht am Ende sind. Ich habe schon ein Finale gespielt, leider verloren. Das soll kein zweites Mal passieren«, sagte Klose, der 2002 in Japan beim 0:2 gegen Brasilien dabei war.

Das Team 2014 sei »geerdet«, betonte Löw: »Ich glaube, dass diese Mannschaft unbedingt bereit ist, das Finale jetzt auch zu gewinnen.« Das Unfassbare, das sich im Estadio Mineirao abgespielt hatte, soll nicht den Blick vernebeln. »Wir sind uns auch jetzt schon klar, dass es einen ganz großen Wurf geben kann, aber nur, wenn wir uns auf dieses Spiel nicht allzu viel einbilden«, meinte Mats Hummels.

Die Brasilianer zerbrachen - noch dazu ohne Superstar Neymar und Kapitän Thiago Silva - an dem immensen Druck, im eigenen Land Weltmeister werden zu müssen. »Wir sind den tiefen Emotionen und der Leidenschaft der Brasilianer mit Ausdauer, mit Ruhe, mit Klarheit und mit Beharrlichkeit begegnet«, analysierte Löw. Der Erfahrungsvorsprung von im Schnitt 66 Länderspielen der deutschen Startelf-Akteure gegen gerade 38 der Brasilianer schlug voll durch, gerade in den verrückten sieben Minuten vom 2:0 (23.) bis 5:0 (29.) .

»Wir haben ein Tor nach dem anderen gemacht, das konnte man zwischendurch kaum glauben«, staunte der herausragende Kroos, der zweimal traf. Dazu erzielte Klose sein 16. WM-Tor, Thomas Müller sein fünftes im Turnier und Sami Khedira sein erstes. Nach der Pause schlug Joker André Schürrle noch zweimal zu sowie ganz zum Schluss Oscar für die hemmungslos weinenden Spieler der Seleção.

Der entzauberte Weltmeister-Coach Luiz Felipe Scolari sprach von »der schlimmsten Niederlage aller Zeiten« gegen eine »fantastische deutsche Mannschaft«. Er übernahm die Verantwortung, seine Botschaft ans gedemütigte 200-Millionen-Volk lautete: »Bitte entschuldigt diesen Fehler!« Die Sportzeitung »Lance!« schrieb entsetzt von der »größten Schande in der Geschichte« des brasilianischen Fußballs.

In Deutschland jubelte die Rekordzahl von 32,57 Millionen Menschen vor den TV-Geräten mit. Dass sie ausgerechnet am 24. Jahrestag des dritten und letzten deutschen Titelgewinns Geschichte geschrieben hatten, beeindruckte die möglichen Nachfolger der 90er-Weltmeister um Lothar Matthäus nicht übermäßig. »Sonntag können wir Geschichte schreiben«, entgegnete Jérome Boateng. »Jetzt müssen wir noch einmal durchziehen, Vollgas geben und uns das Ding holen«, lautete die klare Ansage von Torjäger Müller.

Nach wechselvollen Wochen fügt sich in Löws Puzzle ein Teil ins andere. Das Tor-Phänomen Klose ist punktgenau zurück. »In der Historie der WM die meisten Tore erzielt zu haben, das ist eine ganz überragende Leistung«, lobte Löw. Khedira tritt plötzlich wieder mit seiner unwiderstehlichen physischen Wucht auf. Und der beste Kroos aller Zeiten trumpft im Mittelfeld auf, wie es Mesut Özil tun wollte.

Die rasante Hatz durch die K.o.-Runden geht weiter. Verteufelt nach dem Verlängerungs-K(r)ampf gegen Algerien, vergöttert nach dem zweithöchsten Sieg in 105 WM-Partien. »Vom Untergang zum Favoriten im Finale, das geht immer ganz schnell«, sagte Müller. »Nach dem Ergebnis ist klar, dass alle sagen, Deutschland ist Favorit«, meinte Boateng. Trotzdem warnte Torwart Manuel Neuer, sich nicht von der unwirklich anmutenden Sternstunde blenden zu lassen: »Dieses Ergebnis ist sehr extrem, aber auch das Finale fängt bei nullnull an.«

Gebannt wurde der Blick am Mittwoch im Campo Bahia auf das zweite Halbfinale zwischen Holland und Argentinien gerichtet. »Beide haben eine sehr gute WM gespielt, haben überragende Spieler in ihren Reihen«, sagte Löw und äußerte eine kaum gewagte Prophezeiung: »So ein Spiel wie das Halbfinale kann und wird es nicht werden. Der Gegner wird sich im Finale gegen uns ganz anders präsentieren.«

Lahm und Co. wollen weiter Geschichte schreiben. Im Maracanã könnte Deutschland als erstes Team aus Europa bei einer WM in Südamerika den Titel gewinnen. »Mir ist wurscht, wo ich Weltmeister werde, Hauptsache, wir werden es«, erklärte Kroos. dpa/nd

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.