Die glorreichen Sieben

Deutschlands Spiel gegen Brasilien: die hohe Kultur des Dramas

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Leben heißt: wider den eigenen Willen an der Entzauberung der Welt teilnehmen zu müssen. Leben heißt aber auch: dieser Entzauberung so oft wie möglich ein Schnippchen zu schlagen. Sonst würden wir doch gar nicht leben wollen. Wir brauchen das Erhebende. Das Monumentale. Von dem wir uns gern ergreifen und mitreißen lassen. Dafür gibt es, zum Beispiel, das Theater. Jemanden, der die Kunst braucht, kann man getrost fragen, wann er das letzte Mal erschüttert, aufgewühlt, beseelt aus dem Theater gekommen sei. Einen Sportsfreund auch. Einen regelmäßigen Teilnehmer von Parteiveranstaltungen vielleicht weniger.

Die Fußball-WM ist auch Theater. Spiel. Unterhaltung. Große Oper. Große Show. Mit dem Halbfinalspiel Deutschlands gegen Brasilien am Dienstag schuf sie ihr wahrscheinlich unübertreffbares Epos. Aus diesem Erlebnis, ich gestehe es, ging ich erschüttert, aufgewühlt, beseelt in die Nacht. Hochgestimmt, obwohl schon so nah an den Grenzen zum Schlaf.

Sieben Tore für uns! Die glorreichen Sieben. Allein vier Treffer in sechs Minuten. Das ist nicht erklärbar. Es gleicht dem Glücksmoment auf Theaterproben, da alle sich ungläubig, aber religiös angehaucht anschauen, und die Blicke sagen: Eben ging ein Engel durch den Raum. Löw trainiert keine Engel, aber die Flügel waren in tollster Bewegung. Diese deutsche Mannschaft, diese deutschen Fans, die allüberall in Rausch gerieten - ihre Freudenkultur war der wohl schönste Beweis wider diese linke Ödnis (in Geist und Formulierungsart), die gerade in diesen Wochen so tut, als sammelten sich auf den Fanmeilen Horden von Rassisten. Es ist dies nichts weiter als defätistische nationale Selbstbeschmutzung. Die keinen anruft, keinen anspricht. Sie will weh tun und benötigt dafür nur den Mulm des eigenen unglücklichen Grimms.

Der hohe deutsche Sieg war eine Eingebung, die nachdenken lässt über die Halbwertzeit aller Arten von analytischem Realismus. Es geht um die berühmten Dinge zwischen Himmel und Erde, zwischen Anpfiff und Abpfiff, denen keine Schulweisheit beikommt. Das Ergebnis von Belo Horizonte war auch deshalb ein Schockerlebnis, weil viele Beteiligte wie Beobachter offenbar einen zutiefst falschen Eindruck vom brasilianischen Fußball hatten. Schönheit? Anmut? Eleganz? Das war einmal. Das war, als man noch unbefangen von »Schwarzen Perlen« redete und Künstler wie Pelé und Leonidas meinte. Lange her. Der letzte Nationaltrainer, der sich auf dem Rasen als Ästhetikprofessor verstand, Tele Santana - er schöpfte vor über dreißig Jahren längst nicht mehr aus brasilianischer Urkultur, sondern aus den Geschmeidigkeits-Lektionen, die der europäische Systemgründer Johan Cruyff einer staunend lernenden und willig kopierenden Fußballwelt erteilt hatte. So war auch Brasilien fußballerisch schon europäisch geworden, da wir hier, kontinenteweit entfernt, noch immer und immer weiter die berauschenden Klischees vom Zauber unterm Zuckerhut pflegten. Bis heute pflegten.

Aber kommt es eines Tages dann zur offenen Blamage, dann tritt ein, was sich auch am Dienstag auf die Tagesordnung dieser WM wuchtete: Aus einer heiligen Verehrung durch Publikum wird sehr schnell teuflische Verachtung. Die eben noch inbrünstig, gemeinsam mit den brasilianischen Spielern, a cappella die Nationalhymne dröhnten, als könne man die in die Stadionluft meißeln - sie wechselten mehr und mehr hinüber ins gellende Pfeifen, als gelte es plötzlich, mit Vaterlandsverrätern abzurechnen. Vom Fußball in die Welt gedacht: So furchterregend rasch zerschellt ein aufgezogenes Sternenfeld auf dem Boden der Tatsachen. Wutschreie gegen die Seleção. Mittelstürmer Fred als Sündenbock - und hatte Trainer Scolari nicht überhaupt sträflich starrköpfig an Spielern und Strukturen festgehalten, die seit langem schon einem Zündeln am Volkszorn gleichkamen?

Brasilien à la Brecht: Er schrieb das Gedicht vom Staatsmann, der zwei Weltreiche zum Zittern bringt, indem er hustet - sechs Wochen nach seinem Sturz fände sich im ganzen Lande nicht einmal mehr die Stelle eines Portiers. Auch davon, von den unheimlichen, unterschwelligen Bündeleien der Liebe mit dem Hass, erzählte dieser monumentale Abend.

Und der gesamten deutschen Mannschaft war just im Freudentaumel die Erschütterung über die eigene Zeugenschaft bei dieser brasilianischen Tragödie anzumerken. Als durchwebe jeden deutschen Jubel das Empfinden einer Ungehörigkeit: Was richten wir da nur an?! Das gab dem Ehrentor für die Brasilianer eine Würde, die geradezu aufatmen ließ. Kroos hatte sein zweites Tor geschossen, dass man am Fernseher meinte, es handele sich um die Wiederholungsschleife seines ersten Treffer-Schusses - und er schlug sich die Hand vors Gesicht. Glück und Scham zugleich. Entfesselung, die irgendwie auch um Entschuldigung bat. Groß. Menschlich. Zutiefst rührend. Als sei etwas über diese deutsche Mannschaft gekommen, das sich letzter Erklärbarkeit entzieht.

So wie in den Brasilianern der Mensch sich zeigte, dem die Fäden zur Schöpfung gekappt wurden - und der doch verdammt blieb, weiter den aufrechten Gang zu versuchen. Deutschland deklassierte Brasilien - aber es wird dieses bizarre, surreale Spiel sein, das beide Fußballnationen von nun an bezwingend verkettet: Man hat gemeinsam an einem Bild vom Januskopf der Welt gehauen - das Feuer, das den einen wärmt, es verzehrt den anderen; aber jede Glutfarbe ist so viel Schminke wie das Aschegrau. Wer mit Leidenschaft spielt, weiß doch: alles abwaschbar, wenn der Vorhang fällt.

Ungewiss, was die brasilianische Niederlage im Lande auslösen wird. Der brasilianische Traum offenbarte sich als Kulissenmalerei über einem rumorenden Trauma. Aber aus dem Auftritt der deutschen Nationalmannschaft und dem Hauptteil ihrer Fans eine rassistische Szenerie zu zimmern - das ist, als wolle man einem linken Politiker Authentizität nur dann zubilligen, wenn er statt »Jacobs Krönung« nur Fairtrade-Kaffee trinkt.

Martin Walser ging vor Jahrzehnten mit kommunistischen Freunden in München zum Fußballspiel einer deutschen Elf gegen Moskau. »Als die Freunde fortwährend für die sowjetischen Gäste applaudierten, wusste ich, dass sie politisch weiter vereinsamen würden.« Die deutsche Mannschaft gewann damals. Freilich nicht ganz so hoch wie wir am Dienstag.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -