»Devrim«, das heißt Revolution

Die Istanbuler Gruppe »Food Not Bombs« widmet sich der Kochkunst als Kritik am System

  • Dinah Riese, Istanbul
  • Lesedauer: 6 Min.
Die viel beschworene Revolution nach den vorjährigen Protesten um den Gezi-Park in Istanbul ist ausgeblieben. Etwas vom »Gezi-Gefühl« hat dennoch überlebt.

»Lass die Kerne ruhig drin«, sagt Güray, »die sind gesund.« Die Kerne, über die der 26-Jährige spricht, gehören zu einer Spitzpaprika und sind Teil eines politischen Projekts. Denn die Paprika ist nur eines von vielen Lebensmitteln, die er und seine Freunde an diesem Tag vor dem Verrotten auf einer Istanbuler Mülldeponie bewahrt haben. Jetzt sitzt die Gruppe im Café »Teneffüs« im Stadtteil Tarlabasi und bereitet ein kostenloses Abendessen für die Nachbarn zu. Ihr Antrieb ist weder Nächstenliebe noch Geschäftssinn. Für sie ist Kochen Kritik am System.

Güray ist Mitbegründer der »Food Not Bombs«-Bewegung in der Türkei. Was sich auf Türkisch »Bombalara Karsi Sofralar« nennt, kommt aus den USA und entstand als Form des Protestes gegen die Unsummen, die in Militär und Rüstungsindustrie fließen, während soziale Belange auf der Strecke bleiben. Und dagegen, dass Unmengen von Lebensmitteln täglich im Müll landen.

»Essen ist kein Privileg«, sagt Güray, während er weiter Paprika in Stücke schneidet. Fragt man ihn, was er im Leben tut, sagt er: »Ich bin Aktivist.« Der junge Mann mit der rasierten linken Kopfseite kommt ursprünglich aus der Tierrechtsbewegung. Heute bezeichnet er, der selbst seit zwei Jahren vegan lebt, sich als antiautoritär und als »Zivilisationsgegner«. Das heißt, er tritt für eine Gesellschaft ein, in der Industrie und die damit verbundenen Produktionsweisen nicht mehr als fortschrittlich angesehen werden. In der die Lebensmittelindustrie nicht der Grund dafür ist, dass jeden Tag tonnenweise Lebensmittel weggeworfen werden.

Gürays Tischnachbarin schält Zucchini. Ein Streifen Schale wird abgeschnitten, einer bleibt, einer wird abgeschnitten. Was am Ende herauskommt, ist eine gestreifte Zucchini. »Pyjama-Methode« sagt man in der Türkei dazu. Für »Food Not Bombs« ziehen Güray und seine Freunde einmal wöchentlich los und sammeln in verschiedenen Lebensmittelgeschäften alles ein, was dort in den Müll wandern würde. Gekocht wird ausschließlich vegan. Es gibt auch einen Tauschmarkt als Protest gegen Arbeitsbedingungen in Fabriken in Bangladesch oder gegen Blutdiamanten aus Sierra Leone. »Wenn wir neue Produkte kaufen, tragen wir zu diesen Zuständen bei«, erklärt Güray.

Obwohl Tarlabasi nicht weit von Taksim und der Istanbuler Shoppingmeile Istiklal entfernt ist, liegen Welten zwischen beiden Orten. Während sich in Taksim ein Geschäft an das andere reiht, wohnen in Tarlabasi ganze Familien dicht gedrängt in baufälligen Wohnungen. Viele Anwohner sind Kurden, Roma, Prostituierte, Transsexuelle oder syrische Flüchtlinge. Der Regierung ist Tarlabasi ein Dorn im Auge. Der Stadtteil wird saniert werden, die Mieten werden steigen und die Bewohner werden weit in die Peripherie Istanbuls ausweichen müssen.

Für Riita ist »Food Not Bombs« vor allem ein Projekt gegen Armut. Auch sie gehört zum festen Kern der Bewegung. »Aber eigentlich gibt es keine Armut, nur Ungerechtigkeit«, sagt sie. »Geld ist nicht etwas, das man wie eine Frucht vom Baum pflückt. Wir haben es erfunden.« Die 47-Jährige, blondes Haar, heller Hauttyp, strahlend blaue Augen, wurde in Finnland geboren, lebt aber schon viele Jahre in der Türkei. Sich selbst bezeichnet die Schriftstellerin als Linke, ohne sich aber einer bestimmten Strömung zuzuordnen.

»Kannst du so alle fünf Minuten die Suppe umrühren?«, bittet Güray. »Ich gehe die Leute einladen.« Zwei Stunden wird es noch dauern, bis es Essen gibt. Ein Teil der Gruppe zieht los und klopft an die Türen in der Nachbarschaft. »Hallo, wir sind ›Food Not Bombs‹«, stellen sie sich vor. Manchmal sprechen sie einfach Leute auf der Straße an. Ladenbesitzer, Hausfrauen, Kinder.

Inzwischen haben die anderen draußen das Buffet aufgebaut. Neben einem Blech mit geschmorten Paprika und Zucchini und einer Schüssel Obstsalat steht ein großer Topf gefüllt mit Suppe und beklebt mit dem Logo der »Food Not Bombs«- Bewegung: eine kämpferisch gereckte Faust, die eine Karotte umschließt. Den Aktivisten ist es wichtig, als politische Gruppe und nicht als Wohltätigkeitsverein wahrgenommen zu werden. Deswegen leiten sie jedes Essen mit einer kurzen Erklärung ein. Sie haben eine Botschaft: Vier Menschen können in acht Läden genug Essen sammeln, um eine Mahlzeit für 100 Personen zu kochen.

Es ist eine bunte Gruppe, die sich in der Aynali-Cesme-Straße zusammengefunden hat. Der Nussverkäufer, der seinen Laden unter dem Café hat, steht neben einer älteren Frau mit Kopftuch, die gerade einen Sesamkringel auf ihren Teller legt. Beide würde man nicht gerade der linken Szene zuordnen. Die Mitglieder von »Food Not Bombs« dagegen fühlen sich der antiautoritären und grünen Bewegung verbunden. Dennoch sind sie keine homogene Masse. Unter ihnen sind vegane Anarchisten, Öko-Aktivisten, Tierrechtler, LGBT-Aktivisten, Mitglieder der Gruppe Antikapitalistischer Muslime und Gentrifizierungsgegner. »Dadurch ist unsere Gruppe automatisch mit anderen politischen Bewegungen vernetzt«, sagt Güray.

Viele Menschen seien misstrauisch, wenn sie hören, dass die Zutaten eigentlich für den Müll bestimmt waren, gibt Riita zu. Sie hat inzwischen angefangen, mit den Kindern Figuren aus Ton zu bauen. »Doch wir erklären ihnen, dass wir die Lebensmittel sorgfältig reinigen«, sagt sie. »Was verdorben ist, benutzen wir nicht.« Der respektvolle Umgang mit Lebensmitteln ist eng mit der muslimischen Kultur verbunden und bei traditionellen Familien normal. Das erleichtert den Zugang zu den Leuten in der Nachbarschaft. »Schwieriger ist es jedoch, wenn wir erklären, dass wir das kapitalistische System ablehnen«, gesteht Güray.

Riita schüttet gerade Karottensuppe in die Schale, die ein Kind ihr ungeduldig entgegenstreckt, als Musik ertönt. Ein einbeiniger Mann hat angefangen, Akkordeon zu spielen. Normalerweise tut er das auf der Istiklal-Straße, um ein bisschen Kleingeld zugeworfen zu bekommen. Riita hat ihn eingeladen. Ein Mitglied der »Food Not Bombs«-Gruppe stimmt mit seiner Gitarre ein, während ein anderer Mann losläuft, um seine Trommel zu holen. Zehn Minuten später tanzen die Menschen auf der Straße.

Erste Schritte zur Gründung von »Food Not Bombs« in Istanbul gab es bereits vor Beginn der Proteste zum Erhalt des Gezi-Parks im Sommer 2013. »Trotzdem ist die Bewegung mit Gezi verknüpft«, sagt Riita. Damals versorgten sie und andere die Demonstrierenden mit Essen, wenn auch nicht als »Food Not Bombs«. »Wenn man den Park betrat, kam man an einem Laden mit dem Namen ›Devrim‹ vorbei«, erzählt sie. »Devrim«, das heißt Revolution. »Dort gab es kein Geld. Nicht, dass Geld verboten gewesen wäre«, sagt Riita, »aber es war plötzlich vergessen.« Ihre blauen Augen leuchten, während sie über das viel beschworene »Gezi-Gefühl« spricht.

Güray ist nicht so enthusiastisch. Für ihn ging Gezi nicht weit genug. Die Absetzung eines Ministerpräsidenten, selbst wenn sie gelänge, ändere noch kein System. Und genau das sei das Problem. Deswegen sieht Güray in den Kommunalwahlen im März die endgültige Niederlage von Gezi. Nicht nur, weil die AKP gewonnen hat. »Gezi war Ausdruck unmittelbarer Aktion und direkter Demokratie«, erklärt er. Es sei nicht um die Macht politischer Eliten gegangen, sondern um zivilen Ungehorsam. Der Versuch, daraus Parteipolitik zu machen, habe den Widerstand erfolgreich zurück ins System gepresst. »Wenn sich etwas ändern soll, brauchen wir mehr Ungehorsam«, sagt Güray.

Inzwischen sind die Teller leer, auch die Straße leert sich. Einige Frauen nehmen die übrigen Lebensmittel mit. So finden auch die restlichen Paprikas ihren Weg in die nächste Küche und »Food Not Bombs« macht sich langsam ans Aufräumen.

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