Europa gibt ein beunruhigendes Bild ab
Ökonom Walter Baier über die Herausforderungen für die EU nach der Europawahl und inmitten der Ukraine-Krise
nd: Die meisten Politiker Europas sind dieser Tage in der Sommerpause. Haben Sie nach der Europawahl und den Streitigkeiten um EU-Posten Grund sich zurückzulehnen?
Baier: Das Bild, das die Europawahl zeigt, ist widersprüchlich und beunruhigend. Einerseits ist eine wesentliche Stärkung rechtsradikaler und nationalistischer Parteien zu verzeichnen. Sie sind nicht nur in den beiden einschlägigen Fraktionen und unter den nichtfraktionierten Abgeordneten, sondern im gesamten rechten Spektrum zu finden. Gleichzeitig ist auch die radikale Linke gestärkt worden, im Ganzen und in einzelnen Ländern. Eindeutiger Wahlverlierer ist das politische Zentrum – Europäische Volkspartei, Sozialdemokraten und Liberale –, die für die bisherige Politik stehen. Dass die Sozialdemokraten in der Summe glimpflich davon kommen, gleicht nicht aus, dass sie in mehreren Ländern vernichtende Niederlagen erfuhren. Es scheint aber, als hätten diese Parteien aus dem Signal der Wähler nur die Schlussfolgerung gezogen, in der Mitte zusammenzurücken, um zu business as usual zurückzukehren und die neoliberale Politik fortzusetzen. Das ist beunruhigend, weil es nicht den Wünschen der Bevölkerungen Rechnung trägt. In mehreren Staaten deutet das Wahlergebnis auf eine schwere innenpolitische Krise hin. Mit der Fortsetzung der bisherigen Politik können diese Prozesse nur verschlimmert worden. Damit setzen die herrschenden Parteien den Integrationsprozess selbst aufs Spiel. Auch das kann man aus der Stärkung der rechtsradikalen und nationalistischen Parteien ablesen.
Für die Linke ist die Wahl aber auch etwas ambivalent gelaufen. Die Fraktion ist zwar erheblich gewachsen. In manchen Ländern sind die Vorhersagen jedoch nicht eingetroffen. Welche Rückschlüsse muss die Linke ziehen?
Das Wahlergebnis zeigt eine gestärkte radikale Linke. Aber es zeigt auch ihre Schwächen, einerseits in Osteuropa, wo sie nur in Tschechien und nun auch Slowenien wirklich verankert ist. Zugeben muss man auch, dass in den beiden größten Staaten der EU, Deutschland und Frankreich die Ergebnisse unter den Erwartungen blieben. Über beides muss man ernsthaft nachdenken.
Die Fraktion GUE/NGL ist quantitativ gewachsen, von 35 auf 52 Mandate. Sie ist bunter. Innovative, neue linke Kräfte sind dazukommen, 50 Prozent sind Frauen. Eine andere positive Tatsache war die Entscheidung der Europäischen Linkspartei, Alexis Tsipras aus Griechenland, einen Politiker aus einem der am meisten von der Troika geschädigten Länder, als Spitzenkandidaten zu präsentieren. Mit ihm als gemeinsamen Kandidaten hat sich die Linke weiter europäisiert, was auch europaweit sichtbar wurde.
Wird die Linke in der Lage sein, dies umzumünzen und zu nutzen?
Der Sieg von SYRIZA und die Renaissance der spanischen Linken sind historische Ereignisse. Ich glaube, dass dieses Wahlergebnis der Linken die Möglichkeit eröffnen wird, sich in einer Reihe von Ländern auf nationaler Ebene effektiv der Austerität zu widersetzen. Das könnte auch auf europäischer Ebene eine neue europäische Situation schaffen.
Zurzeit wird die Europapolitik von der Ukraine-Krise dominiert. Welche Auswirkungen hat sie auf die EU?
Alles wird gerade überlagert von der Zuspitzung der politischen Lage in Europa. Wenn sich diejenigen durchsetzen, die das eskalieren wollen und damit eine neue Definition des Verhältnisses der Europäischen Union zu Russland anstreben, dann würde das auch eine andere Europäische Union zur Folge haben. Ich glaube, dass nicht nur die Kriegsgefahr besteht, sondern auch die Veränderung des gesamten sozialen und kulturellen Klimas.
Was muss Europa tun, um das zu verhindern?
Europa muss sich abgrenzen von der Strategie der US-Regierung. Diese schlägt in der Ukraine-Krise eine deutlich konfrontativere Politik vor als die meisten EU-Mitgliedsländer. Das entspricht nicht den Interessen Europas. Ich als Österreicher stelle etwa fest, dass die österreichische Regierung im Augenblick darauf besteht, dass bei aller Kritik an der russischen Politik und Haltung wir nicht in einen Wirtschaftskrieg oder in den Zustand des Kalten Krieges zurückfallen dürfen.
Die EU muss sich also von den USA emanzipieren. Sehen Sie dafür derzeit eine realistische Chance?
Ja, eigentlich schon. In zahlreichen Ländern, auch in Deutschland, steht die öffentliche Meinung einer Eskalation der Lage ablehnend gegenüber. Aber auch innerhalb der Eliten gibt es eine Debatte und eine Auseinandersetzung darum. Es liegt weder im Interesse der EU noch der großen Unternehmen, einen Wirtschaftskrieg mit Russland zu führen – ganz abgesehen davon, dass das im globalen Zusammenhang riskant ist und wahrscheinlich auch gar nicht den realen Kräfteverhältnissen entspricht. Aber vor allem muss man klar erkennen, dass in einem Klima politischer und militärischer Konfrontation kein einziges der ernsten Probleme Europas gelöst werden kann.
Wie muss sich in diesem Spannungsfeld die Linke verhalten?
Ich glaube, die Linke hat die Verpflichtung, in dieser Auseinandersetzung eine ganz klare Position einzunehmen, nämlich: Völkerrecht und zivilisierte internationale Beziehungen setzen voraus, dass man militärische Mittel ausschließt. Das gilt zwischen Israel und Palästina so gut wie in der Ukraine, und das betrifft Europa als Ganzes. Ich glaube, dass wir eine neue, internationalistische Friedensbewegung brauchen.
Neben dieser Frage der Sicherheit, Stabilität und des Friedens sind wir weit vom Ausweg aus der sozialen und ökonomischen Krise, die die europäischen Gesellschaften seit Jahren erfasst hat, entfernt. Wir sehen jetzt, dass das dramatische politische Auswirkungen auf Staaten haben kann, dass ganze Staaten destabilisiert werden. Die radikale Linke muss hier in der Lage sein, nicht nur Alternativen zu nennen, sondern Bündnisse einzugehen, die einen alternativen wirtschaftlichen und sozialen Weg durchsetzen. Drittens muss die Linke die kulturelle und politische Auseinandersetzung, nämlich mit Nationalismus und der Idee führen, dass es den Bevölkerungen besser ginge, wenn sie sich voneinander abschotten und gegeneinander stellen.
Sie haben in der vergangenen Woche an einer internationalen Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung von Sozialwissenschaftlern zur aktuellen Europapolitik in Berlin teilgenommen. Bis Sonntag waren Sie auch bei der jährlichen Sommeruniversität der Europäischen Linkspartei als Mitorganisator vertreten. Welche Bedeutung haben solche Treffen?
Aus der Perspektive des Ukraine-Konflikts war es wichtig, dass auf unserem Workshop Personen aus der Region ihre Einschätzung gegeben haben. Es herrscht in diesem aufgeladenen Klima ja ungeheure Desinformation. Wenn die Regierungen auf Konfrontation schalten, ist wichtig, dass die Bevölkerungen ihre Solidarität stärken. Und das ist eine wichtige Aufgabe der Linken. Immerhin haben in Europa fast 13 Millionen Menschen Parteien der radikalen Linken gewählt. Damit ist sie ein kultureller und politischer Faktor, den man nicht unterschätzen darf.
Solidarität zu üben, ist im Fall der Ukraine nicht immer einfach, wie auch wir als »nd« jüngst erfahren mussten. Im Juni sollte am Franz-Mehring-Platz eine Veranstaltung mit dem Titel »Neonazis & Euromaidan« stattfinden. Als sich herausstellte, dass die Autoren, deren Buch dabei vorgestellt werden sollte, Verbindungen in die russische Rechte pflegen, setzten sich mehrere Mietparteien im Haus dafür ein, sie abzusagen. Ausgerechnet Sergej Kiritschuk von der sich selbst als links verorteten Organisation Borotba hatte diese Veranstaltung angeleiert. Er hatte kürzlich dazu erklärt, dass er die Autoren nicht kannte. Ein Vorfall wie dieser zeigt, wie schwierig es für jene ist, die sich nicht den ganzen Tag mit dem Thema beschäftigen, sich zu informieren. Wie ist Ihre Erfahrung?
Wir haben Kontakt zu Wissenschaftlern, einer war nun auch bei den Veranstaltungen. Das, was wir von dem Kollegen gehört haben, war ausgewogen. Er hat versucht darzustellen, dass es Neonazis auf dem Maidan gab. Aber Nationalisten und Rechtsradikale gibt es eben auch in diesen proklamierten Republiken im Osten der Ukraine. Es ist kein Kampf der weißen gegen die schwarzen Ritter, sondern Nationalismus auf beiden Seiten, der von unterschiedlichen Mächten mit imperialistischen Interessen instrumentalisiert wird. Klar ist auch, dass hinter allem ein sozial-ökonomischer Hintergrund erkennbar ist, nämlich die schlechte soziale Lage. Wahr ist aber auch, dass die Kiewer Regierung es nicht zustande gebracht hat, einen nationalen Dialog mit den verschiedenen Gemeinschaften hinzubekommen.
Der Workshop und die Sommeruniversität konnten also dazu beitragen, sich die Dimension der Krise noch einmal zu vergegenwärtigen und neue Impulse mitzunehmen?
Die Schlussfolgerung, dass die Linke jede Art von Militarisierung der Sicherheitspolitik und der internationalen Beziehungen ablehnt sowie alles unterstützt, was dem Frieden nützt, stand für mich schon vorher. Sie wurde nun noch einmal bestätigt. Solch eine Nachdenkpause war gut, um zu sehen, dass es in der schwierigen Situation auch Leute gibt, die nicht zu Fanatikern werden, sondern eine ausgewogene und nüchterne Analyse geben können. Man muss nicht allem zustimmen. Aber entscheidend ist, dass man versucht, allen Seiten und Interessen einigermaßen Rechnung zu tragen. Der Wahnsinn im Fall der Ukraine ist ja, dass alle Seiten so tun, als wenn die Gegenseite keine berechtigten Interessen geltend machen dürfte. Aber von der Position aus kann man immer nur zur nächsten Stufe der Konfrontation übergehen.
Der Konflikt in der Ukraine wird und muss die Politik in Europa also auch in den nächsten Monaten dominieren?
Die Krise wird uns weiter beschäftigen und auch das, was damit an Politikveränderung eingeleitet werden kann. Wenn wir Österreicher und andere Europäer etwa tatsächlich vom russischem Erdgas abgekoppelt werden, würde das das Land in eine wirtschaftliche Situation bringen, die kaum zu steuern ist. Wir reden also nicht über Ideologie, sondern über sehr konkrete materielle Probleme die entstehen, wenn Europa wieder auf Konfrontation gestellt wird.
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