Hitzestrecken, Schwärme und strauchelnde Stadtwerke

Gero Lücking, Vorstand für Energiewirtschaft beim unabhängigen Ökostrom-Anbieter Lichtblick, über die Woche aus Klimarettersicht

  • Lesedauer: 7 Min.

klimaretter.info: Herr Lücking, Deutschland schafft sein Klimaziel bis 2020 nicht, zumindest nicht, wenn die Politik nicht handelt. Nach Recherchen unseres Magazins könnte die Emissionslücke sogar deutlich größer sein, als das Bundesumweltministerium zugestehen möchte. Warum redet eigentlich niemand mehr über Klimaschutz in diesem Land?

Gero Lücking: Andere Themen scheinen wichtiger und dringender zu sein. Sie verdrängen das Klima in die zweite und dritte Reihe: die Ukraine-Krise, die Krise im Nahen Osten und – so blöd es klingt – zuletzt auch die Fußballweltmeisterschaft.

Wenigstens werden die Klimaveränderungen im Zusammenhang mit der beständigen Sommer- und Hitzeperiode medial miterwähnt. Durch den Klimawandel werden Extremwetterlagen, wie wir sie derzeit erleben, häufiger. Die US-Klimabehörde hat gerade vermeldet, dass die Monate Mai und Juni zu den wärmsten überhaupt seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gehören. Nach dem ausgefallenen Winter in den ersten Monaten dieses Jahres ein weiterer Temperaturrekord.

Dieses Jahr hat sogar die Chance, das wärmste je gemessene Jahr zu werden. Noch liegt es nach 2010 und 1998 auf Platz drei. In fünf Monaten werden wir es wissen.

Auf dem Petersberger Klimadialog hat Bundeskanzlerin Angela Merkel noch gesagt: »Klimaschutz braucht Anreize.« Was sind die wichtigsten Anreize, die die Regierung beschließen muss?

Wir brauchen europaweit den Ausstieg aus der Verstromung von Braunkohle und Steinkohle durch ein Kohle-Ausstiegsgesetz. Außerdem eine drastische Verteuerung der CO2-Emissionszertifikate, indem wir über zwei Milliarden Zertifikate herausnehmen – und nicht wie geplant nur 900 Millionen. Wir brauchen eine CO2-Steuer, steuerliche Nachlässe für die energetische Gebäudesanierung und Abwrackprämien für ineffiziente, alte Haushaltsgeräte wie Kühlschränke und Waschmaschinen.

Die Akteure der Energiewende durchleben gerade harte wirtschaftliche Zeiten. Wie steht es bei Lichtblick?

Wir sind gut aufgestellt. Wir verdienen Geld und wir haben eine klare Zukunftsperspektive. Wir arbeiten weiter konsequent an unserer Schwarmenergie-Strategie. Schwarmenergie heißt für uns, viele kleine Anlagen durch eine Bündelung zu optimieren. Dezentrale Anlagen werden intelligent in die Energiemärkte integriert und damit sowohl wirtschaftlich als auch im Sinne der Energiewende optimiert.

Einerseits müssen Erzeugungslücken bei Bewölkung und Flaute intelligent und flexibel aufgefüllt werden. Andererseits müssen Überschüsse, die bei viel Wind und Sonne in den Windkraft- und Photovoltaikanlagen immer öfter erzeugt werden, intelligent genutzt werden: um stationäre Batterien und Elektrofahrzeuge kostengünstig aufzuladen oder Strom in Wärme umzuwandeln. Gleichzeitig bieten auch Verbraucher mit ihrem Abnahmeverhalten erhebliche Flexibilitätspotenziale.

Die Energiewende wird nur gelingen, wenn wir die im Markt vorhandenen Kapazitäten flexibel aufeinander abstimmen können, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine Erzeugungskapazität – also ein Kraftwerk –, einen Speicher in Form einer stationären oder mobilen Batterie oder um eine Last – also Verbrauch – handelt.

Das ist unsere energetische Schwarm-Theorie und inzwischen auch schon Schwarm-Praxis. Sehr kleinteilige und zunehmend dezentral verteilte Kapazitäten müssen so koordiniert werden, dass sie im Schwarm entsprechend ihren technischen Möglichkeiten und Charakteristiken so gesteuert werden, dass sie in der Summe die Energieversorgung eines Industrielandes wie Deutschland sicherstellen können.

Bei diesen Entwicklungen machen wir gute Fortschritte: Blockheizkraftwerke – also stromerzeugende Heizungen – erzeugen nur dann Strom, wenn die sonstige regenerative Stromerzeugung auf Null sinkt. Natürlich unter der Bedingung, dass es den Hausbewohnern trotzdem nicht zu kalt oder zu heiß wird. Zum ersten Mal können kleinste Blockheizkraftwerke sogenannte Regelenergie zur Stabilisierung der Stromnetze bereitstellen.

In Berlin versuchen wir in einem weltweit einmaligen Feldtest, die Batterien von 20 Elektrofahrzeugen so in die Energiemärkte zu integrieren, dass nicht nur das Mobilitätsbedürfnis der Nutzer jederzeit gedeckt ist, sondern gleichzeitig die Batterien auch noch Dienstleistungen für die Versorgungssicherheit bereitstellen – und die ersten Heizkraftwerke werden intelligent in den Schwarm integriert.

Die gesetzlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen müssen wir bei diesen Entwicklungen immer wieder berücksichtigen. Das neue EEG bringt auch hier wieder Veränderungen. Neben den energiewirtschaftlichen und IT-Entwicklungen müssen wir uns also vor allem darum kümmern, wie wir unsere Ideen in wirtschaftliche tragfähige Geschäftsmodelle umsetzen, die auch unter neuen gesetzlichen Regelungen Bestand haben. Mit der Energiewende haben wir praktisch ein unendlich großes, dauerhaft spannendes Betätigungsfeld vor uns. Das gibt es sonst selten.

Das neue EEG sieht Belastungen für die Eigenstromnutzung vor – ein Geschäftsfeld, das Lichtblick gerade für sich entdeckt hat, beispielsweise im Gelben Viertel in Berlin-Hellersdorf. Lohnt sich das Geschäft noch? Wie geht es dort weiter?

Tja, die Regierung konnte sich nicht dazu durchringen, Mieter so zu behandeln wie Eigenheimbesitzer. Das ist für einen sozialdemokratischen Energieminister vollkommen unverständlich und geradezu skandalös. Wenn das EEG am kommenden Freitag in Kraft tritt, ist es amtlich: Während Eigenheimbesitzer Bestandsschutz genießen und von der Zehn-Kilowatt-Bagatellgrenze profitieren – also auch zukünftig von der EEG-Umlage befreit bleiben –, bleibt Mietern all dies verwehrt.

Mieter werden tatsächlich doppelt bestraft. Sie können nicht einmal bei Bestandsanlagen bei der bisher gültigen Regelung bleiben. Die sah vor, dass sie eine um zwei Cent pro Kilowattstunde reduzierte EEG-Umlage zahlen mussten. Dieses sogenannte Solarstromprivileg entfällt. Künftig müssen sie – egal ob Bestands- oder Neuanlage – die EEG-Umlage in voller Höhe zahlen.

In Zahlen bedeutet das: Mieter, die beispielsweise 1.500 Kilowattstunden direkt aus einer Solaranlage beziehen, die auf dem Dach ihres Mehrfamilienhauses umweltfreundlich Strom erzeugt, mussten in der Vergangenheit schon rund 65 Euro EEG-Umlage zahlen. In Zukunft steigt dieser Betrag auf etwa 100 Euro jährlich an.

Investitionen in solche wohnortnahen Solaranlagen werden also bewusst erschwert. Unser Energieminister behindert die Energiewende. Auch verfassungsrechtlich ist die Diskriminierung bedenklich. Anders formuliert: Wenn der sozialdemokratische Minster Sigmar Gabriel und sein heutiger grüner Staatssekretär Rainer Baake vor zehn Jahren gefragt worden wären, ob es schlecht sei, auf Mehrfamilienhäusern Solaranlagen zu bauen und den dort erzeugten Strom direkt an die darin lebenden Menschen zu vermarkten, dann hätten beide sicher geantwortet, »Nein, das brauchen wir, das ist die Energiewende.« Heute verabschieden sie Regelungen, die solche Ideen verhindern.

Lichtblick hat im Gelben Viertel in Berlin-Hellersdorf das bisher größte Mieterstrom-Projekt Deutschlands gestartet. Wir haben uns entschlossen, die Preise hier trotz der Änderungen im EEG stabil zu halten. Die finanziellen Belastungen nehmen wir auf uns.

Zum Schluss: Was war Ihre Überraschung der Woche?

Nach der Insolvenz der Stadtwerke Gera in Thüringen hat die Unternehmensberatung Roland Berger 500 Stadtwerke untersucht und festgestellt, dass davon 100 noch schlechter dastehen als die Stadtwerke in Gera. Die Geraer mussten wegen einer akuten Liquiditätslücke Konkurs anmelden. In Nordrhein-Westfalen stehen die Kommunen als Gesellschafter vieler Stadtwerke wegen der kritischen wirtschaftlichen Lage unter ständiger Aufsicht der Landesbehörden nach den Regelungen des Haushaltssicherungsgesetzes. Die Lage ist flächendeckend kritisch.

Jetzt sehen wir auch, warum die Stadtwerke als Akteure der Energiewende nicht in Betracht kommen. Sie haben weder die Innovations- noch die Finanzkraft. Auf diese Akteure darf man also die Strategie der Energiewende nicht ausrichten. Wir brauchen eine umfassende Strukturreform, denn die Energiewende braucht keine 900 Stadtwerke.

Fragen: Nick Reimer

Der Artikel auf klimaretter.info

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