Die Freiheit, die sie meinen
Zwei Klassen Mensch, selbst im Asylbewerberheim? Ein Besuch bei Flüchtlingen im Thüringer Städtchen Suhl
Ousman sieht sich als politischer Flüchtling. Als einer, der die Repressionen in seinem Heimatland Eritrea nicht länger ausgehalten hat; als einer, dem dort vielleicht sogar Folter oder Tod drohen. Und gleichzeitig sagt er Sätze wie: »Es nach Deutschland geschafft zu haben, ist die große Chance meines Lebens.« Ousman ist auch auf der Suche nach einem besseren Leben; einem wirtschaftlich besseren Leben. Er sitzt im Gras vor einem Plattenbau in Suhl, der nun sein provisorisches Zuhause ist. So sehr sucht er diese politisch und wirtschaftlich bessere Zukunft, dass er selbst in diesem Moment auf der Flucht ist, da ihm niemand nach dem Leben trachtet, ihn niemand foltern will. Ousman will fort, nur nicht hier bleiben. Er will weiter fliehen.
Aber kann Ousman weiter fliehen? Darf er weiter fliehen? Bekommt er Asyl? In Europa? In Deutschland? Hinter seinem Schicksal steht die Grundfrage europäischer Flüchtlings- und Asylpolitik: Wann ist ein Flüchtling wirklich ein Flüchtling, einer, dem man nach internationalen Standards Schutz gewähren muss? Auf dem Papier ist das simpel. Im wahren Leben, in Fällen wie denen von Ousman ist es genau das nicht.
Der Afrikaner ist gerade einmal 22 Jahre alt. Im linken Ohr hat er den weißen Ohrhörer eines Headsets stecken. Dessen zweiten Strang hat er sich um dieses Ohr herumgeschlungen. In seinem krausen Haar trägt er einen gelben Kamm. Wenn ihn etwas besonders aufregt, dann nimmt er den Kamm mit seinen dichten Zinken, fährt sich damit kurz durch das Haar und lässt ihn schnell wieder dort stecken. Mehr als reden oder erzählen will er selbst Fragen stellen.
Gemeinsam mit Ousman sind seit einigen Wochen zahlreiche Flüchtlinge in Suhl untergebracht, für die Thüringen die Verantwortung übernommen hat. Der Freistaat nimmt gemäß eines zwischen den Bundesländern festgelegten Schlüssels etwa 2,8 Prozent aller Menschen auf, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Seit Monaten steigt deren Zahl an, für Deutschland und damit auch für Thüringen. Das Landesverwaltungsamt hatte den Kommunen deshalb jüngst mitgeteilt, sie müssten in Zukunft auch sehr kurzfristig bereit sein, eine steigende Zahl Nicht-Deutscher in ihrem Verantwortungsbereich unterzubringen. Inzwischen sind mehr als 200 Männer, Frauen und Kinder in Suhl angekommen und nun am Rande der Stadt untergebracht.
Ist das viel, ist das wenig angesichts der aktuellen Zustände in dieser Welt? Die Zahlen reichen jedenfalls allemal für gehässige Kampagnen, gerade im Vorfeld einer Landtagswahl. Und tatsächlich haben die üblichen Verdächtigen längst damit begonnen, mit den Flüchtlingen ihr Süppchen zu kochen - auch mit den in Suhl untergebrachten. Die Nazis von der NPD etwa lassen ihren Spitzenkandidaten seit Anfang der Woche durchs Land tingeln, »ungefiltert« will er zu den Deutschen sprechen, »an vor der Schließung stehenden Schulen und Betrieben, vor Asylbetrügerunterkünften«, wie das bei den Braunen heißt. Schon Anfang Juli registrierte die Thüringer NPD »Widerstand« in Suhl. Dieser müsse sich »dringend intensivieren, damit sich Betrüger und Kriminelle in unserem Thüringen nicht wohlfühlen«, fordert die Partei.
Nun hat er sich »intensiviert«, der »Widerstand«. Am Sonntag warf jemand einen Stein durch das Fenster einer Gemeinschaftsküche, vor dem Haus wurde an einem Laternenmast gezündelt. Verletzt wurde niemand, doch der Thüringer Flüchtlingsrat befürchtet, dass sich die Lage um die Unterkunft in Suhl noch zuspitzen könnte in den kommenden Wochen. Heute wollte die NPD direkt vor dem früheren Offiziersheim aufziehen. Die Veranstaltung wurde verlegt.
Wie geht es weiter mit Ousman und seinen Schicksalsgenossen? Bereits jetzt ist die Suhler Unterkunft überbelegt. Noch vor wenigen Wochen hatte Thüringens Innenstaatssekretär Bernhard Rieder im Innenausschuss des Thüringer Landtages laut Sitzungsteilnehmern erklärt, in der neuen Suhler Außenstelle des Thüringer Erstaufnahmelagers Eisenberg sei Platz für 136 Menschen geschaffen worden. In solchen Erstaufnahmeeinrichtungen dürfen Flüchtlinge kraft Gesetz höchstens drei Monate bleiben. Dann müssen sie in dauerhafte Unterkünfte verlegt werden.
Ousman wünscht sich nichts sehnlicher als eine solche Verlegung. Er möchte endlich das haben, was er sein »Interview« nennt - eine Befragung von neu in Deutschland angekommenen Flüchtlingen durch Vertreter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) - und dann Suhl verlassen. Dieses Gespräch, sagt er, sei für ihn und auch die anderen Eritreer wichtiger als Essen, wichtiger als Kleidung. Es entscheidet darüber, welchen Status Ousman in Deutschland und Europa haben wird. Also: Ob er vorläufig in Deutschland bleiben darf oder ob die Bundesrepublik oder Europa ihn wieder in sein Heimatland abschieben werden.
Die Fragen, die Ousman umtreiben, ergeben sich aus diesen beiden Wünschen: »Warum haben wir noch kein Interview gehabt?«, fragt er. »Warum sind wir noch nicht verlegt worden?« Erst stellt diese Fragen einmal, zweimal, dreimal. Die junge Äthiopierin, die seine Worte ins Englische übersetzt, kann irgendwann gar nicht mehr anders als verlegen zu lächeln, weil Ousman sich erneut wiederholt. Wenn er von »Interview« oder »Verlegung« spricht, hat Ousman stets den Kamm in der Hand.
Über sich selbst will Ousman nicht viel sagen. Schon gar nicht über den Weg, den er genommen hat, um nach Deutschland zu gelangen. Und auch darüber, wie lange er unterwegs war, woher die Tausenden Euros kamen, die solche Reisen gewöhnlich verschlingen. Zumindest im Groben kennt Ousman offenbar die Regel der europäischen Flüchtlingspolitik: Ein Flüchtling muss danach in dem europäischen Land Asyl beantragen, dessen Boden er innerhalb des EU-Raums zuerst betreten hat.
Das ist bei einem Großteil der afrikanischen Flüchtlinge Italien. Die übliche Fluchtroute von Eritrea nach Europa führt von Ostafrika über den Sudan nach Libyen und von dort aus über Mittelmeer. Der maritime Teil der Reise ist der besonders gefährliche. Das scheinbar so ruhige Mittelmeer ist tückisch, auch in den Sommermonaten, wenn Zehntausende die Überfahrt versuchen. Für viele von ihnen endet ihr Weg dort mit dem Tod. Um sein Schweigen zu rechtfertigen, versucht Ousman die Flucht nach vorne: »Wenn ich Ihnen erzählen würde, was ich alles erlebt habe auf meiner Reise nach Europa, dann würde das viel zu lange dauern. So viel Zeit haben Sie gar nicht.«
Warum nehmen Menschen diese Gefahren auf sich? »Es gibt in Eritrea keine Demokratie«, sagt Ousman. Deshalb sei er nach Europa gekommen. Ali, der neben Ousman im Gras sitzt, formuliert das fast wortgleich. Ali erzählt, er sei vor dem Militärdienst geflüchtet, zu dem junge Eritreer in ihrer Heimat zwangsverpflichtet würden und der sich für viele von ihnen zu einem jahrzehntelangen Frondienst auswachse, aus dem es kaum ein Entrinnen gebe. Ali ist sichtbar älter als Ousman, hat eine Frau und ein Kind. Dann beendet er plötzlich das Gespräch.
Der Satz »Es gibt in Eritrea keine Demokratie« hallt immer wieder aus der Mitte der Flüchtlinge, die sich im Lauf des Gesprächs um Ousman und Ali scharen. In ihren Befragungen beim BAMF wird er eine Schlüsselrolle spielen. Ebenso wie ein Satz, den Ousman und Ali auch sagen: »Hier in Deutschland ist es gut. Hier gibt es Demokratie.«
Diese Formulierungen sind für die Flüchtlinge Schlüsselsätze, weil Europa nur Menschen aufnimmt, die zum Beispiel aus politischen oder religiösen Gründen in ihren Heimatländern verfolgt werden oder die dort vom Tod bedroht sind, weil sie aus einem Bürgerkriegsland stammen. »Wirtschaftsflüchtlinge« - also Menschen, die vor der Armut in ihrer Heimat fliehen - haben in Europa qua Gesetz keinen Anspruch auf Asyl; nicht in Europa und auch sonst nirgendwo auf der Welt. Armut ist kein von den Vereinten Nationen anerkannter Fluchtgrund, übrigens ebenso wenig wie Diskriminierung, die nicht offiziell vom Staat ausgeht, aber den Betroffenen trotzdem das Leben verstellt. Gerade »Wirtschaftsflüchtlinge« werden oft schnell und teils mit großem Aufwand wieder in ihre Heimatländer zurückgebracht.
So klar diese Trennung aber eben auf dem Papier ist, so kompliziert ist sie in der Praxis. Ousman etwa macht keinen Hehl daraus, deshalb nach Deutschland gekommen zu sein, weil er hier einerseits frei leben könnte und andererseits für sich hier auch eine wirtschaftliche Perspektive sieht. Mit der Hoffnung auf ein Leben ohne Unterdrückung verbindet er auch die Hoffnung auf ein bisschen Wohlstand. Leben in Wohlstand. Ousman sagt, wenn er endlich sein Gespräch mit dem BAMF gehabt habe, wolle er nach Frankfurt am Main gehen. »Um dort zu lernen, zu arbeiten.« Welche Arbeit? »Jede Arbeit.« Solche Komplexitäten aber sind im internationalen Flüchtlingsrecht nicht vorgehen. Selbst wenn Ousman als politischer Flüchtling anerkannt wird und Asyl bekommt, bedeutet das noch lange nicht, dass er wirklich nach Frankfurt am Main gehen, dort arbeiten und wirklich am Leben in Europa teilhaben darf.
Ousman und die Männer, die um ihn herum im Gras sitzen, erleben seit Tagen genau diese Komplexität, zu der ihre Erwartungen an das Leben in Europa beitragen. Sie merken, dass es noch ein weiter Weg zu einem freien Leben in Wohlstand ist - selbst wenn man Europa erreicht hat.
Untergebracht sind sie auf insgesamt drei Etagen des Wohnblocks, in der Regel in Vierbettzimmern, in denen außer den Schlafgelegenheiten nur noch ein Schrank steht. In jeder Etage gibt es zudem einen Aufenthaltsraum, einen Toilettenbereich, Gemeinschaftsduschen.
Die Einrichtung ist einfach, das Essen ist regelmäßig. Und dennoch haben sich diese Menschen mehr erhofft. Zuweilen würden manche nicht richtig satt, sagt Ousman. Doch die Freiheit, die sie meinen, ist gar nicht die materielle. Es geht um die Teilnahme am Leben. Es gebe für sie nichts zu tun, als den ganzen Tag zu warten, sagt Ousman. Es gebe auch kein Internet. In die Innenstadt seien sie zwar schon gegangen, »aber wir können da nichts machen, wir haben ja kein Geld«. Mit der Freiheit in Deutschland, sagt er, sei das wirklich gut. Aber einen großen Teil dessen, was Europa ausmacht, hätten sie noch gar nicht »erfahren« können.
Die Gründe dafür vermuten Ousman und viele andere in rassistischen Vorurteilen ihnen gegenüber. Sie scheinen das zu spüren, auch wenn sie bisher nur vom Rand aus auf die Gesellschaft blicken. Nicht nur die EU-Gesetzgebung ist komplex und voller Widersprüche, sondern die gesamte Erfahrungswelt von Flüchtlingen. Viele der Suhler Eritreer glauben, sie würden benachteiligt, weil sie schwarz sind; Flüchtlinge aus Syrien und Albanien, so sagen sie, seien später als sie angekommen, hätten ihre BAMF-Befragung aber schon gehabt und seien inzwischen verlegt worden. Für sie sind die Syrer und Albaner ganz pauschal »die Weißen«, die sie ein bisschen beneiden.
Dass das in ihrem Zufluchtsland mitnichten so gesehen wird, dass es gar nicht so wenige Deutsche gibt, für die schon EU-Bürger aus Polen, Bulgarien oder Ex-Jugoslawien das Andere, Fremde, Bedrohliche darstellen - Menschen also, die für sie von Deutschen erst recht nicht zu unterscheiden sind -, wie will man ihnen das erklären?
Dass sie selbst nicht allen willkommen sind, hatten Ousman, Ali und die anderen schon vor den Attacken vom Sonntag geahnt. Nun werden sie erleben, wie das Deutschland, in dem für einen Anklopfenden alles so gut sein muss in Sachen »Demokratie«, mit Außenseitern umgeht. Der Flüchtlingsrat warnt vor weiteren Angriffen auf Unterkünfte, auch in Suhl. Parteien, Verbände und Gutwillige müssten in die Offensive gehen, um jene Eskalation zu vermeiden, von der die NPD-Rassisten dieser Tage träumen.
Ein Stadtsprecher dagegen hat erklärt, man könne im Grunde nicht viel tun. Für Sicherheit müsse schon das Land sorgen. Das habe der Stadt die Flüchtlinge ja auch »aufgedrückt«.
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