Die Chance nach dem Scheitern
Studienabbrecher als Fachkräfte gefragt
Thomas Müller stand schon kurz vor dem Ziel. Sechs von sieben Semester hatte der angehende Realschullehrer aus Friedrichshafen in Baden-Württemberg studiert, Praktika gemacht, seine Freude an der Wissensvermittlung gefunden. Je häufiger er jedoch vor einer Klasse stand, desto mehr stellte er fest: »Erziehung ist nicht so mein Ding.« Schließlich brach er sein Studium ab und machte sich auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz.
Fast durch Zufall stieß der heute 28-Jährige auf den Beruf des IT-Systemkaufmanns. Bei der Firma Synergetic Agency - einer Internetagentur in Leinfelden-Echterdingen, gleichfalls Baden-Württemberg - hatte seine Bewerbung Erfolg. Sein Chef Lars Wolfram sieht das Scheitern im Studium nicht als Makel. »Vom Managementansatz ist es besser festzustellen, wann man etwas abbrechen muss«, sagt er.
Müller ist kein Einzelfall. Bei Bachelor-Studenten liegt die Abbrecherquote nach Daten des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) bei 28 Prozent. In technischen oder mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern sind die Anteile tendenziell höher. Absolute Zahlen nennt das DZHW nicht. Bundesweit wird die jährliche Zahl der Studienabbrecher jedoch auf 100 000 geschätzt.
Immer mehr Firmen buhlen um die Ex-Studenten. »Studienabbrecher sind eine wichtige Zielgruppe, die zahlenmäßig gar nicht so klein ist«, sagt Vera Demary, Projektleiterin im Kompetenzzentrum für Fachkräftesicherung am Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Das Kompetenzzentrum hat Studienabbrecher für den aktuellen Förderzeitraum zum besonderen Schwerpunkt erklärt. Denn bislang gibt es nach den Worten von Demary nur einzelne Firmen oder Modellprojekte, die sich der speziellen Zielgruppe widmen. Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) hatte Anfang des Jahres eine Initiative angekündigt, um Studienabbrecher für Handwerksberufe zu gewinnen.
Belastbare Zahlen über den Vermittlungserfolg gibt es bislang nicht. Insbesondere Absolventen aus mathematischen, technischen, naturwissenschaftlichen und Ingenieurfächern würden dringend gesucht, sagt Julia Flasdic, Leiterin des Referats Hochschulpolitik beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK). »Gleichzeitig haben wir mehr und mehr einen generellen Mangel an Auszubildenden.« Entsprechend fehlten zunehmend Fachkräfte mit beruflicher Bildung.
Synergetic-Chef Wolfram, der den Fast-Realschullehrer Thomas Müller einstellt hat, hält die Quereinsteiger insbesondere für IT-Unternehmen für besonders wertvoll. Die Branche sei einem so schnellen Wandel unterworfen, dass es nur gut sei, wenn Bewerber schon bewiesen hätten, dass sie mit Veränderung positiv umgehen. Außerdem stellt der Synergetic-Chef fest, dass die Abbrecher häufig motivierter und loyaler sind. »Wenn jemand schon einen Fehlschuss hatte, ist er letztendlich bewusster«, erklärt sich das der Aachener Wirtschaftsförderer Thomas Hissel.
Thomas Müller kann sich jedenfalls gut vorstellen, auch nach Abschluss seiner Ausbildung im kommenden Jahr weiter für seine Firma zu arbeiten. Der Bedarf ist da: Seit 2011 ist die Zahl der Mitarbeiter bei der Synergetic Agency jährlich um ein Drittel auf inzwischen 80 gestiegen. Die Schule spielt in Müllers Leben sogar nach wie vor eine Rolle - seine Freundin ist Lehrerin. Für ihn ist das Thema aber »komplett abgeschlossen«, sagt er. dpa/nd
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