Einfach in den Wald hinein

Tipps und Butterbrote zum Abschied von Tante Agnes

  • Thomas Roser, Sopronköhida
  • Lesedauer: 2 Min.

Die pensionierte Krankenschwester Agnes Baltigh lebte in Fertörakos am Neusiedler See - zehn Kilometer entfernt von Sopron und direkt an der ungarisch-österreichischen Grenze. Um sich die Miete für ihr Häuschen weiter leisten zu können, hatte die heute 89-Jährige im April einen Nebenjob als Kartenverkäuferin im Strandbad angenommen. Doch am 1. August verkündete dort ein Grenzschutz-Major eine Botschaft, die nicht nur ihrem Sommerjob, sondern auch dem Leben Tausender DDR-Urlauber eine radikale Wendung geben sollte: »Ab heute können alle Ausländer aus den Ostländern zum See kommen.«

Schon kurz danach rollten die ersten Trabis zum Strand. Und rasch sah sich Agnes Baltigh mit einer ganz neuen Klientel konfrontiert. Wie man denn am besten nach »drüben« komme, lautete die Frage, die sie in den nächsten sechs Wochen hundertfach hören und beantworten sollte. Von Winzern, Nachbarn und Grenzsoldaten erhielt sie die gewünschten Informationen: »Einer der Soldaten erzählte mir, dass der mittlere der drei Wachtürme nie besetzt sei: Einfach beim Steinbruch in den Wald hinein - und dann stets den mittleren Turm anpeilen.«

Unzählige Ostdeutsche warteten bei »Tante Agnes« den Einbruch der Dunkelheit ab. Die Witwe kochte für ihre Gäste Tee, schmierte Butterbrote und hörte deren trostlosen Berichten zu: »Ich half ihnen, weil ich Verständnis dafür hatte, dass sie weg wollten.«

Von dem Picknick erfuhr Agnes Baltigh von ihren DDR-Schützlingen: »Ich sagte, wenn ihr seht, dass das Tor aufgeht, könnt ihr hinübergehen. Von meinem Campingplatz gingen einige hundert - und kamen nicht zurück.«

Das Tor wurde am nächsten Tag wieder abgeriegelt. Doch am 11. September sollte die Fluchthelfermission von Agnes Baltigh endgültig enden. Ungarn öffnete die Grenzen. Zwei Monate später fiel die Mauer in Berlin: Der Durchbruch beim Grenzpicknick hatte den Anfang vom Ende der DDR besiegelt.

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