Schulterschluss der Arbeitslosen
Selbstorganisierte Gruppen kämpfen gemeinsam gegen Hartz IV und Jobcenter-Willkür
Das Buch ist mit seinen bislang 27 Auflagen ein Bestseller unter den juristischen Ratgebern: Der »Leitfaden ALG II/Sozialhilfe von A bis Z« bietet auf über 500 Seiten alle Informationen für Arbeitslose und Sozialhilfebezieher inklusive darüber, wie man sich als Betroffener gegen die Behörden wehren kann - mit oder ohne Hilfe der Gerichte. Seit der Hartz-Reform vor zehn Jahren wurde das Sozialgesetzbuch (SGB) II 63 Mal geändert, erklären die Autoren Harald Thomé und Frank Jäger von der Wuppertaler Selbsthilfegruppe Tacheles, »ohne dabei handwerkliche und existenzbedrohende Mängel zu beseitigen«. Fehlerhafte Bescheide und »unbegründete Sanktionen« seien Folge einer »Überforderung schlecht bezahlter und häufig auch schlecht ausgebildeter Jobcenter-Mitarbeiter«.
Die Autoren beraten seit 20 Jahren Arbeitslose. Sie sind als Referenten gefragt, betreiben Datenbanken für Hilfsadressen, Urteile und Dienstanweisungen der Bundesagentur für Arbeit (BA). Der Kontakt zu Betroffenen läuft über ein Internetforum. Die Nachfrage nach den persönlichen Beratungsterminen sei riesengroß, heißt es bei Tacheles.
Viele Erwerbslose stehen nämlich ratlos vor den Bescheiden, der Rechtsdschungel wird durch Gesetzesänderungen immer undurchdringlicher. Die Novellen des SGB II werden zum Großteil durch die Sozial- und Verwaltungsgerichte erzwungen, die immer mehr Schwächen und Lücken des Hartz-Systems aufdecken. Von den vielen Klagen gegen Bescheide der Jobcenter gingen 44 Prozent zugunsten der Kläger aus.
Hoher Beratungsbedarf und Kritik am Agenda-2010-Hauptwerk sorgen für regen Zulauf bei den rund 800 Selbsthilfegruppen Arbeitsloser in Deutschland. 280 davon sind gewerkschaftlich organisiert, weiß Martin Künkler von deren Koordinierungsstelle. Sie achten mehr auf die Wiedereingliederung Jobsuchender und die Verhinderung prekärer Arbeitsverhältnisse. Dagegen komme es anderen Organisierten mehr auf die Sicherung ihrer Existenz an, so Künkler. Ein Streitpunkt ist die Forderung unabhängiger Gruppen nach einem »bedingungslosen Grundeinkommen für alle«, das die gewerkschaftlichen Gruppen als unbezahlbar ablehnen.
Doch jetzt planen beide erstmals eine gemeinsame Kampagne. »AufRECHT bestehen« lautet die doppeldeutige Parole der zwischen 22. September und 2. Oktober geplanten Aktionstage. Letzterer soll als »Tag des Arbeitslosen« bundesweit begangen werden. Alle Gruppen sind aufgerufen, lokale, fantasievolle Aktionen durchzuführen. Am Vortag des 3. Oktober wollen sie so auf die mangelnde Einheit im Sozialbereich hinweisen.
Ein Dorn im Auge ist den Aktivisten etwa die geplante »Rechtsvereinfachung« der Hartz-IV-Bestimmungen. Das durchaus positive Vorhaben der Entbürokratisierung berge Fallstricke, erklärt Künkler. So hätten die Jobcenter eine Art Sonderrechtsstatus inne. Beispielsweise würden die häufig vorkommenden Fehler bei der Berechnung des Anspruchs oft nicht vollständig korrigiert. Hat die Behörde dagegen zu viel Geld gewährt, verrechnet sie dies mit künftigen Zahlungen. Betroffene müssen so monatelang mit Leistungen unterhalb des Existenzminimums auskommen. Hinter solchen Ärgernissen stehe eine grundsätzliche Haltung: »Sparen auf dem Rücken der Arbeitslosen«, meint Thomé. Kernproblem bei Hartz IV sei die Tatsache, dass die Betreuung von gegenwärtig rund fünf Millionen Beziehern in den Jobcentern keiner demokratischen Kontrolle unterliege.
Für den DGB-Experten Wilhelm Adamy, der als Versichertenvertreter im BA-Verwaltungsrat sitzt, ist das Ausklammern von Hartz IV aus der Kompetenz der Selbstverwaltung ärgerlich: Selbst in seiner Funktion erhalte er vom Arbeitsministerium keine Informationen. Aufgrund des Zwei-Klassen-Systems der Arbeitsverwaltung unterscheide sich der Zugang zu Fördermaßnahmen zwischen ALG-I- und ALG-II-Beziehern erheblich.
Mit seinen sechs Gewerkschaftsmitstreitern kann Adamy im Kuhhandel mit Arbeitgebern und Verwaltung ab und zu kleinere Erfolge erzielen; die kommen aber nur den Arbeitslosen des Versicherungssystems zugute und vertiefen damit die Kluft zu der von Sozialleistungen abhängigen Mehrheit. Auf jeden Fall werde er sich die Forderungen von »AufRECHT bestehen« genau anschauen, betont Adamy, sowie gegebenenfalls Forderungen und Kritikpunkte aufgreifen.
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