Auf Verwertung getrimmt
Ökonomische Standards sind zum einzigen Maßstab sozialer Arbeit und Erziehung geworden. Ein Weckruf
Wie konnte es so weit kommen? Was brachte uns dazu, eine Arbeit mit Menschen auf bizarre Weise völlig menschenfremd zu zerlegen in »kleine Wäsche«, »große Wäsche« oder »Hilfe bei der Nahrungsaufnahme« (um beim Beispiel der ambulanten Pflege zu bleiben)? Meine These, die ich in diesem Buch erläutern und begründen werde, ist die, dass diese Taylorisierung der Arbeit mit Menschen eine Konsequenz der ökonomistischen Bestrebungen im Sozialen seit Anfang der 1990er Jahre ist. Es ist der fast zwangsläufig zu nennende Ausfluss einer immer radikaleren Ökonomisierung, der wir uns ausgesetzt sehen.
Ich kritisiere nicht die gute, wichtige und notwendige betriebswirtschaftliche Unterlegung der Sozialunternehmen. Geschenkt. Ich meine vielmehr jenen Prozess, in dessen Verlauf ökonomische Standards alternative Handlungslogiken immer weiter verdrängen und schließlich zum mehr oder weniger einzigen Maßstab sozialer Arbeit und Erziehung werden. Wenn auch in diesem Bereich Menschenbilder, Methoden und Qualität ökonomisch geprägt sind, dann läuft in unserer Gesellschaft etwas schief. Das Wesen sozialer Arbeit und Erziehung droht »auf der Strecke zu bleiben«, mindestens jedoch ökonomistisch zu mutieren und den Menschen aus den Augen zu verlieren.
Kindergärten, Krankenhäuser oder Pflegeheime - der Ökonomismus macht auch vor sozialen Dienstleistungen nicht halt. »Wo der Mensch jedoch zum Humankapital verkommt, wo jeder seines Glückes Schmied sein soll und der Mehrwert zum wichtigsten Wert wird, muss die Menschlichkeit zwangsläufig auf der Strecke bleiben«, so kündigt der Frankfurter Westend Verlag das neue Buch von Ulrich Schneider an.
Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes in Berlin ist bereits als Autor verschiedener Publikationen zu den Themen Armut in Deutschland, Verantwortung des Sozialstaates und soziale Gerechtigkeit in Erscheinung getreten. Als Kritiker der herrschenden sozialen Verhältnisse hat er sich auch in den tagespolitischen Debatten einen Namen gemacht. Schneider, 1958 in Oberhausen geboren, hat Erziehungswissenschaft studiert und an der Universität Münster promoviert.
Der nebenstehende Vorabdruck ist dem Buch »Mehr Mensch! Gegen die Ökonomisierung des Sozialen« entnommen, das in dieser Woche erscheint. Ulrich Schneider fordert einen radikalen Wechsel und Rahmenbedingungen, die soziale Arbeit wieder möglich machen.
Am 3. September wird Schneider die Veröffentlichung gemeinsam mit Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig in Berlin vorstellen und mit der SPD-Politikerin über seine Thesen zur Zukunft des Sozialen diskutieren - um 11 Uhr im »Grünen Salon« der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 2. Informationen dazu und zum Buch finden Sie unter www.westendverlag.de
Es geht mir in diesem Buch um die Arbeit in Pflegeheimen und Kindergärten, aber auch in Schuldnerberatungsstellen, Frauenhäusern oder Obdachlosenunterkünften, um Hilfen für Familien, um Schulsozialarbeit und Behindertenwerkstätten. Es geht - mit einem Wort - um Wohlfahrtspflege. Und dieses Feld der Wohlfahrtspflege ist enorm weit: Fünf Millionen Erwerbstätige zählt der Sektor Gesundheits- und Sozialwesen, 2,5 Millionen sind es im Bereich Bildung und Erziehung.6 Zum Vergleich: In der gesamten verarbeitenden Industrie - ob Automobile, Chemie oder Nahrungsmittel - sind ebenfalls »nur« 7,9 Millionen Menschen tätig. Gemessen an den Erwerbstätigenzahlen ist das Gesundheits- und Sozialwesen damit der drittgrößte Wirtschaftszweig Deutschlands.
Das Sozialwesen umfasst beispielsweise über 50 000 Kitas, die von über 2,5 Millionen Kindern besucht werden. Dazu gehören aber auch rund 12 000 Pflegeheime und ebenso viele ambulante Pflegedienste, die zusammen weit über eine Million Menschen pflegen. Wohlfahrtspflege reicht tatsächlich von der sprichwörtlichen Wiege bis zur Bahre.
Allein die sechs großen Wohlfahrtsverbände, unter deren Dächern sich die Arbeit im Wesentlichen abspielt - der Paritätische Wohlfahrtsverband, die beiden kirchlichen Verbände Caritas und Diakonie, die Arbeiterwohlfahrt, das Rote Kreuz und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden - repräsentieren zusammen über 100 000 Sozialeinrichtungen und Dienste mit über 1,6 Millionen Angestellten. (Das sind mehr Erwerbstätige als in der Land- und Forstwirtschaft.) Hinzu kommen einige Millionen Ehrenamtliche. Sie besuchen pflegebedürftige Menschen, sie helfen bei den Hausaufgaben, sie sitzen an Sorgentelefonen oder organisieren Lebensmittelhilfen bei den Tafeln.
Wohlfahrtspflege ist damit alles andere als ein Nischenphänomen in dieser Gesellschaft. Wohlfahrtspflege hat Gewicht. Es geht dabei viel um Erziehung und Bildung, vor allem aber um Hilfen; um Hilfen, die für viele Menschen existenziell sind. Die Anlässe sind dabei so vielfältig wie die Fußangeln des Lebens selbst. Man wird von einem Partner verlassen, auf den man angewiesen ist, und gerät in eine Krise. Man ist einsam im Alter oder arm, weil die Rente nicht reicht. Man wird pflegebedürftig, oder eine schwere Krankheit ereilt einen. Man hat ein Alkohol- oder Drogenproblem oder eine psychische Erkrankung. Man ist arbeitslos und findet keinen neuen Job. Man hat den Schulabschluss nicht geschafft. Oder man kommt als Ausländer einfach nicht klar in der neuen Gesellschaft. Es sind in vielen Fällen persönliche Verstrickungen, Lebenskrisen, bei denen es müßig ist, die Schuldfrage zu stellen. Häufig genug sind es aber auch Anlässe, bei denen der sogenannte freie Markt in der Regel nicht nur nichts zu bieten hat, was wirklich hilfreich wäre (und was man sich auch noch leisten kann), sondern bei denen unser auf Leistung und Erfolg getrimmte Markt seine ganze Brutalität zeigt; Anlässe, bei denen diejenigen, die schwächeln und aus welchen Gründen auch immer nicht mehr mithalten können, straucheln. Schneller, als viele es sich vorstellen können, stehen sie auf der Straße, haben kein Job mehr, zu wenig Geld und am Ende nicht einmal mehr eine Wohnung.
In der Theorie so mancher Soziologen sollten sie sich eigentlich prima ergänzen, dieser auf Verwertung und Gewinn getrimmte Markt, jene auf unbestechliche Ordnung und Regelhaftigkeit gerichtete Verwaltung und schließlich diese Wohlfahrtspflege, die sich um den Menschen kümmert, wenn er nicht mehr so recht kann, und sein Menschsein wieder ganz in den Mittelpunkt rücken muss, wenn ihm wirklich geholfen werden soll. Es ist die vielbeschworene soziale Marktwirtschaft, die aus diesem Mix von sich eigentlich widersprechenden Prinzipien resultieren soll. Marktwirtschaft schon, aber irgendwie gebändigt. Wie auch immer man diese soziale Marktwirtschaft bewerten mag, als Glücksfall für die Menschheit oder nur als besonders raffinierte Form kapitalistischer Ausbeutung - die Geschichte ist voll von Beispielen, die uns zweifelsfrei lehren: Der freie Markt braucht die von ihm unabhängige öffentliche Verwaltung und das Soziale zwingend, will er nicht in kurzer Zeit an seiner eigenen Härte und seiner Gier scheitern und Chaos und Revolution gebären.
Das Soziale ist daher, zusätzlich zu seiner schlichten Größe, für das gesamte Funktionieren dieses marktwirtschaftlich durchdrungenen Systems in Deutschland von größter Bedeutung. Die Akzeptanz dieses Systems hängt neben anderem entscheidend davon ab, dass es einer großen Mehrheit der Menschen relativ gut geht: Unter welchen Bedingungen arbeiten sie? Haben sie überhaupt eine Arbeit? Wie sind Ressourcen, sprich Geld und Reichtum, verteilt? Wie ist es um Bildung und Gesundheit bestellt? Und die Akzeptanz hängt davon ab, wie gut Wohlfahrtspflege funktioniert: Ist sie da, wenn es darauf ankommt? Kümmert sie sich wirklich? Kommt der Mensch wenigstens hier zu seinem Recht, Mensch zu sein? So zynisch es klingen mag: Konsequentes Streben nach dem persönlichen Vorteil bis hin zur Gier (und der entsprechenden Menschenvergessenheit), wie es der kapitalistischen Marktwirtschaft nun mal eigen ist, kann als gesellschaftliches Prinzip nur überleben, wenn ihm ebenso konsequente Menschlichkeit gegenübersteht (und eine ebensolche Ordnung, denn auch oder gerade die konsequente Menschlichkeit neigt zum Ungehorsam, zum Regelverstoß und zur Anarchie). Insofern ist das Soziale weit mehr als das bloße barmherzige Anhängsel eines ansonsten von der Wirtschaft dominierten Systems. Es ist seine Voraussetzung, ein echtes Gegenüber mit eigenen Handlungsprinzipien und -logiken. Wo das Soziale diesen eigenständigen Charakter verliert und sich dem Markt anpasst, verliert es zwangsläufig seine Korrektur- und Ausgleichsfunktion. Das System gerät aus dem Gleichgewicht.
Und genau an diesem Punkt stehen wir: Im Zusammenspiel von Markt, öffentlicher Verwaltung und Sozialem hat es die gewerbliche Wirtschaft vermocht, immer weitere Lebensbereiche der Menschen unter ihren Zugriff und ihre gewinnorientierte Logik zu zwingen. Wohnen beispielsweise war staatlicherseits lang dem Wirken der kapitalistischen Marktwirtschaft entzogen. Erst ganz allmählich wurde es erlaubt, hier Geschäfte zu machen. Ebenso verhält es sich mit der Energiewirtschaft, mit der Wasserwirtschaft, schließlich auch mit der Gesundheitsversorgung oder der Pflege von Menschen. Nach und nach wurde ein Feld nach dem anderen erobert und der Gewinn- und Renditelogik unterworfen. Seit dem Mauerfall 1989 ist Deutschland vom neoliberalen Wirtschaftsprinzip geradezu überrollt worden. Die Grundsätze, Denkweisen und Instrumente der profitorientierten Marktwirtschaft, vom kalten Preiswettbewerb bis hin zur vordergründig, weil ökonomisch effizienten Taylorisierung von Arbeitsprozessen machen auch vor dem Sozialen, vor Bildung, Erziehung und Wohlfahrtspflege, vor Kindergärten, Pflegeheimen oder Hilfen für Arbeitslose keinen Halt mehr, wie wir noch sehen werden.
Es geht daher in diesem Buch um die Ökonomisierung des Sozialen, die da so modern und attraktiv daherkommt, vorgetragen von smarten Managern und klugen Professoren, die Effektivität und Effizienz versprechen, dabei aber leider allzu oft den Menschen aus dem Blick verlieren. Denn unter marktwirtschaftlichen Handlungsmaximen kann es nicht gelingen, Kinder kindgerecht zu erziehen, und es kann nicht gelingen, gute soziale Arbeit in Pflegeheimen, Kindergärten, Jugendzentren oder familienpädagogischen Diensten zu leisten - wie wir ebenfalls noch sehen werden. Zu viele verlieren bei diesem neoliberalen Spiel. Eine Gesellschaft, die den Menschen mehr und mehr verdrängt und ihn nur noch als Kunden oder Humankapital sieht, wird unmenschlich.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.