Kein Pferd nirgends

Neues aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Kürzlich kam meine Tochter aus Berlin und erhöhte damit nicht unerheblich die Betriebstemperatur der Lagunenstadt. Den ganzen Tag und die halbe Nacht schweifte sie umher, ging in die Accademia-Galerie, wo die wunderbaren Bellinis hängen und jetzt gerade sonntags freier Eintritt ist (warum gibt es so was nicht in Berlin?), entdeckte eine irische Volkstanztruppe, die abends am Fischmarkt bei Rialto probte, suchte nach versteckten Jazz-Clubs - und war überall gleich mittendrin. In vier Tagen hatte sie viel mehr erlebt, als ich in vier Wochen, ach was, vier Monaten, um nicht gleich von Jahren zu sprechen.

Wie könne ich überhaupt über Venedig schreiben, meinte sie tadelnd, wenn ich gar nichts erlebe? Dieser Einwand trifft den wunden Punkt einer Autorenexistenz: Schreiben ist nun mal etwas anderes als erleben. Wer schreibt, hat keine Zeit, etwas zu erleben - oder anders gesagt, er verlagert den Erlebnisaspekt des Lebens ins Schreiben. Weil das nur begrenzt befriedigend ist, muss er immer weiter schreiben. Nebenbei bemerkt, ist Schreiben Arbeit, die leicht aussehen soll, selbst dann, wenn sie schwerfällt.

Aber berechtigt ist der Einwand schon, wie will man etwas über einen Ort schreiben, das ihn charakterisiert, wenn man das Haus kaum verlässt? Nun muss man an eine in Vergessenheit geratene Kulturtechnik erinnern: das Lesen. Denn wer etwas schreiben will, sollte sich mit denen beraten, die bereits über das gleiche Thema geschrieben haben. Das erfordert Zeit - und Stille. Und als Zweites sollte man beobachten, was um einen herum geschieht. Dazu braucht man einen Abstand, denn wer als Erlebnispartikel mit dem Strom mitläuft, kann ihn nicht gleichzeitig in allen Details studieren. Also ist es überaus sinnvoll, Venedig bei Sonnenuntergang mit einem Glas Wein in der Hand vom Balkon aus ins Auge zu fassen. So weit meine sophistisch-didaktische Selbstrechtfertigung für ein wohl nicht zu Unrecht konstatiertes Übermaß an Passivität.

Doch es ist etwas anderes als bloße Bequemlichkeit, es ist die Scheu vor einer unangemessenen Handlung. Warum etwas tun, wo man es ebenso gut unterlassen könnte? Die Frage der Notwendigkeiten stellt sich in dieser Stadt mit einem gewissen existenziellen Nachdruck. Wie oft bin ich am »Café Florian« auf dem Markusplatz vorbeigegangen und habe mir gesagt, es kann doch nicht sein, dass ich da noch nicht gesessen habe! Aber ich tue es nicht. Nicht, weil man hier für die Tasse Kaffee inzwischen fast zehn Euro bezahlt, plus fünf oder sechs Euro für die Musik, vorgetragen von professionellen Caféhaus-Schrammlern in einer jede Melodie tötenden Routine, unterbrochen nur von gelegentlichen Anflügen eines geheuchelten Enthusiasmus, der sich gar nichts daraus macht, als solcher sofort durchschaut zu werden - sein Geld wird man in dieser Stadt ohnehin schneller los als anderswo, also Geiz ist es nicht, jedenfalls nicht nur.

Diese seltsam unverschämte Atmosphäre mit uniformierten Kellnern, die sämtlich wie andernorts ausgemusterte Türsteher wirken, die ganze künstlich erhitzte Aufwallung der Musik - all dies ist vermutlich ein Nachklang der Besatzungszeit durch k.u.k. Österreich-Ungarn und hat etwas von einem verstaubten Rotlichtbezirk, der nur noch matt historisierend leuchtet. Ich gehe ganz gern am »Florian« vorbei, besonders spätabends, und schaue mir im Vorbeigehen an, wie die falschen Leute einen Ort besetzt halten, der sie nicht meint. Natürlich sitzt dort kein Venezianer. Niemals! Aber das ist nicht der Grund, warum auch ich hier noch nie saß - mir fehlt an diesem Ort jene spezielle Verhaltenheit, die Venedig durchaus zu verströmen vermag. Nicht alles hier ist fauler Zauber, mancher ist auch echt!

Mit dieser Art von Handlungshemmung, die leicht mit Hochmut verwechselt werden könnte, bin ich zum Glück nicht allein. Als August von Platen am 7. September 1824 in Venedig ankommt, mit dem Dampfboot von Triest, denn noch gibt es weder einen Damm, noch eine Eisenbahn, notiert er in sein Reisetagbuch - nichts. Das Schweigen dauert eine Woche lang. Dann endlich am achten Tag seines Hierseins: »Die Fülle der Gegenstände ist zu groß, um in der bisher beliebten Art fortfahren zu können. Manches Herrliche sieht man nur so flüchtig, daß man kaum wagt, davon zu sprechen, und lange Zeit ging ich hier wie im Traume herum, aus dem ich mich langsam erhole.«

Das Wirkliche hat in Venedig eben immer Schlagseite, droht, ins Unwirkliche zu kippen. Der Stadt ist die Phantasie in die Fundamente eingesenkt, man schaut anders an, was sich da bei jeder Ankunft neu - je nach Jahreszeit und Windrichtung - aus Nebeldunst oder Hitzeflimmern erhebt. Und dann steht auch Platen auf dem Markusplatz - die große Scheu davor, sein Traumbild nun gleichsam mit Füßen treten zu müssen, haben seine Sonette eindrucksvoll bewahrt: »Ich steig an Land, nicht ohne Furcht und Zagen, / Da glänzt der Markusplatz im Licht der Sonne: / Soll ich ihn wirklich zu betreten wagen?«

Was ist aus dieser Scheu eigentlich geworden? Uns erschüttert doch kaum mehr etwas, alles, was es an Bildern irgendwo gibt, ob schrecklich oder schön, steht uns jederzeit zur Verfügung - per Mausklick ist alles da, was je an Bildern ins Netz gestellt wurde. Aber auch die Maus ist ja bereits ein antiquiertes Bild, bei meinem neuen Computer tippe ich einfach mit dem Finger auf den Bildschirm, um Befehle zu geben, ob ich das nun will oder nicht. Allerdings rächt sich die Technik regelmäßig für solch unziemliche Berührung mit Befehlsverweigerung.

Auch Venedig rächt sich, wenn man es zum frivolen Freizeitpark für Besserverdienende degradiert. Venedig kann auch anders, notfalls macht es sogar Ernst und versinkt doch noch - trotz des »Moses«-Schleusensystems oder gerade seinetwegen. Bis dahin kann dann jeder hier das bewundern oder vermissen, was er mag. Der nörgelige Montaigne, der 1580 hierherkam und sich die bekannten Sehenswürdigkeiten »ein wenig anders und etwas sehenswerter« vorgestellt hatte, ist jedenfalls von einer Tatsache überwältigt: endlich einmal eine Stadt ganz ohne Pferde! Diese Auskunft hat übrigens bis heute ihre Richtigkeit behalten.

Venedig braucht offenbar beides, um sich dauerhaft über Wasser zu halten, Bewunderer und Verächter. Nicht selten vereint sich beides in einer Person. Dona Leon, die Amerikanerin in Venedig, etwa kennt die hier perfektionierte Technik, sich selbst ins beste Licht zu rücken. Die im Schatten - also die Touristen - erkennt man als Einzelne nicht in der Masse, ihnen kann man bequem die eigenen Sünden aufladen: »Für einen Großteil der Schäden, die den Strukturen der Stadt zugefügt werden, sind Touristen verantwortlich - zumindest werden sie dafür verantwortlich gemacht -, aber man könnte mir nur schwer einreden, dass ein Tourist seine Waschmaschine nach Venedig schleppt, um sie hier in den Kanal zu werfen.«

Manchmal möchte man doch daran glauben, dass den Amerikanern die Zukunft gehört, zumindest im Falle von Dona Leon und Venedig.

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