Die Sprache der Ungehörten
Der Philosophieprofessor Stephen D’ Arcy begründet, warum die Unterscheidung von »guten« friedlichen Protesten und »schlechten« gewalttätigen Protesten falsch ist
Aufruhr ist die Sprache derer, die nicht gehört werden, sagte in den 1960er Jahren Martin Luther King, der selbst friedlichen Protest befürwortete. Wie wahr die Diagnose ist, demonstrierte in diesen Wochen die US-amerikanische Kleinstadt Ferguson. Nachdem dort ein schwarzer unbewaffneter Jugendlicher von einem Polizisten erschossen wurde, erlebte die Stadt ständig neuen gewaltsamen Aufruhr. Die Stadtoberen versuchten mit schwer bewaffneten Polizisten in Schutzausrüstung die Proteste einzudämmen. Gewaltsamer Protest ist illegal. Aber auch illegitim?
»Wer mit der Aussage, Gewalt sei grundsätzlich unakzeptabel, lediglich sagen will, dass unakzeptable Gewalt unakzeptabel sei, sagt letztlich gar nichts aus«, schreibt Stephen D’Arcy in seinem auf Englisch erschienenen Buch: »Languages of the Unheard« (Die Sprache der Ungehörten). Die Anwendung von Gewalt ist für den Philosophieprofessor und langjährigen Aktivisten für soziale Gerechtigkeit kein nützliches Kriterium, um eine Aktion als gut oder schlecht einzustufen. Denn: Gewalt werde je nachdem, wer sie ausübt und gegen wen sie sich richtet, ganz unterschiedlich bewertet. »Sobald wir eine Tat als wünschenswert und moralisch richtig empfinden, weigern wir uns, sie als gewaltsam zu bezeichnen.« Wenn jemand grundlos einen Mann schlägt, sei das ein illegitimer Gewaltakt. Schlägt jemand einen anderen, weil er dies als einzige Möglichkeit sieht, ihn davon abzuhalten, ein Kind zu misshandeln, stelle sich die Frage der Legitimität neu.
D’Arcy unterscheidet also nicht zwischen gewaltsamem und friedlichem Protest, um ihn als legitim oder illegitim zu bewerten. Legitim ist ein Protestakt für ihn, wenn er letztlich für ein Mehr an Demokratie sorgt: Zum einen, weil er denen eine Stimme verleiht, denen die Regierung nicht zuhört. Zum anderen, weil er dazu führt, dass beispielsweise Gesetze eingeführt oder reformiert werden, um marginalisierten Gruppen in der Gesellschaft mehr Mitsprache zu ermöglichen. Demokratie bedeutet für D’Arcy nicht, bei der Wahl seine Stimme abzugeben, sondern über die Wahl hinaus seine Stimme zu erheben und an der Gestaltung der Gesellschaft zu partizipieren.
Militanz ist für D’Arcy aber nicht in jedem Fall das Mittel der Wahl, sondern nur der letzte Ausweg, wenn reden und verhandeln nicht mehr hilft. Die Voraussetzung für legitimen militanten Protest ist daher erstens, dass der Protest Möglichkeiten eröffnet, die ansonsten nicht gegeben wären. Zweitens, dass die Betroffenen selbst auf die Barrikaden gehen. Drittens müsse das Ziel sein, das Volk (wieder) zu bemächtigen, sich selbst zu regieren. Und viertens darf der Protestakt nicht Eigeninteressen verfolgen, sondern muss dem Gemeinwohl dienen. Das impliziert, dass die Aktion der Öffentlichkeit gegenüber plausibel gemacht werden muss.
In Deutschland hadern strikte Ablehner von Gewalt beispielsweise mit der Frage, ob Anschläge auf Bundeswehrfahrzeuge gerechtfertigt sind, wenn damit Kriege verhindert und Menschenleben gerettet werden können. Das Ziel solcher Aktionen wäre das Gemeinwohl, womit eines der Kriterien nach D’Arcy gegeben wäre. Nach den übrigen Kriterien ließe sich jedoch nicht eindeutig auf eine legitime Aktion schließen, allerdings zeigen sich darin auch die Schwächen von D’Arcys Modell: Ob die Ziele dieser oder anderer militanter Aktivisten auch anders erreicht werden könnten, lässt sich in den meisten Fällen kaum ermitteln. Das Kriterium der eigenen Betroffenheit ist ebenfalls zweischneidig, dürfte man dann in Deutschland nicht gegen Kriege andernorts, an denen deutsche Soldaten oder Waffen beteiligt sind, protestieren? Schließlich dürfte es nur äußerst selten vorkommen, dass Regierungen nach militanten Protesten Gesetze im Sinne der Aktivisten ändern. Sind sie dadurch automatisch illegitim?
Wendet man D’Arcys Kriterien auf die Proteste in Ferguson an, handelt es sich dabei um einen legitimen Aufstand: Die Menschen gingen gemeinsam auf die Straße, um sich gegen Unrecht zu wehren, das sie jederzeit selbst treffen könnte. Polizei und Politik wollten die rassistischen Schüsse zunächst unter den Teppich kehren; mit Worten allein war offenbar keine Einsicht zu erwarten. Erst die heftigen Straßenproteste brachten Bewegung in den Fall. Sie erfolgten, abgesehen von den Plünderungen der Supermärkte, nicht aus Eigennutz, sondern forderten Gehör ein sowie Gerechtigkeit. Und das Ende des Alltagsrassismus.
Stephen D’Arcy: Languages of the Unheard. Why militant protest is good for democracy. Zed Books, London 2014, 223 S., 18,98 €.
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