Begeistert von Heine und Storm
»Lyrisch-dramatischer Dichter«, so nannte er sich schon mit vierzehn: Der frühe Thomas Mann in der großen Werkausgabe
Er war vierzehn, als er Mitte Oktober 1889 den ersten Brief schrieb, der erhalten blieb. »Hier in Lübeck«, berichtete er, »geht wieder alles seinen gewohnten Gang. Die Schule hat wieder angefangen und ich habe in letzter Zeit ziemlich viel Schularbeiten zu machen gehabt.« Dann ein paar Fragen und der Hinweis, dass noch ein langer Brief an Heinrich fällig sei, zuletzt ein Gruß von Mama, Papa und den Schwestern, dann unterschrieb er und setzte unter seinen Namen bedeutungsvoll »Lyrisch-dramatischer Dichter«.
Noch konnte Thomas Mann, der zwölf Jahre lang die Schulbank drücken musste, dabei dreimal sitzen blieb und in ständiger Opposition zum Geist der Schule lebte, nicht aufatmen. Erst 1894 hat er das Lübecker Katharineum verlassen. Schon in Sekunda, beichtete er später, sei er »so alt wie der Westerwald« gewesen: »Faul, verstockt, und voll liederlichen Hohns über das Ganze, verhaßt bei den Lehrern der altehrwürdigen Anstalt«. Selbst in Deutsch, so das Abgangszeugnis, hatte es nur für ein »Befriedigend« gereicht. Dabei waren schon früh seine literarischen Neigungen erkennbar. »Zwischen Kinderspiel und Kunstübung«, erklärte er 1940, »ist in meiner Erinnerung kein Bruch, keine scharfe Grenze.« Er war gerade mal zehn, als er die ersten dramatischen Texte erfand, »dämliche kleine Theaterstücke«, wie er später einräumte, »Spielpläne, die als Grundlage zu Theateraufführungen dienten, die ich mit jüngeren Geschwistern vor Eltern und Tanten veranstaltete«. Bald folgten die ersten Gedichte.
Band drei der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, von der nun fünfzehn Bände vorliegen, dokumentiert die literarischen Anfänge Thomas Manns mit Versen, einem Filmentwurf (»Tristan und Isolde«) und einem Drama, geschrieben in einer Zeit, als nicht mal er selber ahnte, dass einmal das Epische sein Terrain werden würde. Im Zentrum des (bislang schmalsten) Textbandes steht »Fiorenza«, entstanden zwischen 1900 und 1905, ein Renaissancestück über Geist und Schönheit, einen asketischen Prior und den sinnlichen Giovanni, die wie feindliche Brüder agieren, weil der Liebende nach Auffassung seines Gegenspielers durch seine Liebe den Geist entwürdigt. Es wird viel geredet in diesem dramatischen Versuch, der mit minimaler Handlung auskommt, sich auf der Bühne nach Achtungserfolgen auch nur schwer durchsetzen konnte und in den Thomas-Mann-Ausgaben bisher kurzerhand unter die frühen Erzählungen eingereiht wurde.
Nahezu unbekannt, nur in den 1991/92 publizierten Notizbüchern überliefert, sind die sieben Gedichte des jungen Mannes, die es nun erstmals in eine Werksammlung geschafft haben, verfasst von einem Vierzehn-, Fünfzehnjährigen, der, begeistert von Heine und Storm, seine »Erfahrungen von Liebe und Freundschaft« festhalten wollte. Veröffentlicht wurden sie 1893 unter dem Pseudonym Paul Thomas in der Schülerzeitschrift »Frühlingssturm«. Immerhin hat ihr Autor die ungelenken Anfänge nicht geleugnet. Noch im Mai 1954 sprach er in einem Brief von »schlechten Versen«, die er schon früh »auf kindliche Weise« dem Heinrich Heine nachzumachen versuchte.
Er war jung und unerfahren und hatte keine Vorstellung, wohin der Weg ihn mal führen würde. Berühmt wollte er werden, soviel war klar. »Ich bin ein kindischer und schwacher Fant«, dichtete er, »Und irrend schweift mein Geist in alle Runde, / Und schwankend fass’ ich jede starke Hand. // Und dennoch regt die Hoffnung sich im Grunde, / Daß etwas, was ich dachte und empfand, / Mit Ruhm einst gehen wird von Mund zu Munde.« Und an den Schluss setzte er die Zeilen: »Ein Traum von einer schmalen Lorbeerkrone / Scheucht oft den Schlaf mir unruhvoll zur Nacht, / Die meine Stirn einst zieren wird zum Lohne // Für dies und jenes, was ich hübsch gemacht.«
Heinrich Mann, schon Autor des Romans »In einer Familie« (1894) und seit 1896 dabei, sein erstes Erfolgsbuch »Im Schlaraffenland« zu entwerfen, konnte sich vor Spott kaum fassen. Er sei bei der Lektüre der letzten Gedichte »aus dem peinlichen Gefühl gar nicht herausgekommen«, meinte er und sprach von »weichlicher, süßlich-sentimentaler Freundschafts-Lyrerei«. In den Dramen des Bruders, schrieb er an Ludwig Ewers, fänden sich ja noch einige - »wenn auch noch so verbrauchte« - Gedanken, »wie Oasen im Sand«. »Aber das Wasser in seiner Lyrik ist noch langweiliger. Und es ist - Gott sei’s geklagt - alles Wasser, nichts als Wasser …« Der Freund aus Lübecker Schultagen, mit Thomas Manns »Gefühlsprodukten« durchaus vertraut, ist den harten Urteilen allerdings nicht gefolgt. Anfang Dezember 1903 jedenfalls berichtete Thomas dem Bruder von einem Besuch bei Ewers in Berlin: »Er bedauerte, daß ich keine Verse mehr mache, wie damals, als ich ihm meine Gedichte … immer zum Recensiren brachte …«
Der Lyriker Thomas Mann ist bald verstummt. Geboren wurde der Prosaist, der seine ersten Novellen schrieb, dem Lyrischen aber nicht völlig entsagte. Elisabeth Galvan, die den Band herausgab und die hundertfünfzig Textseiten mit einem üppigen Kommentar von fünfhundert Seiten ergänzte, weist darauf hin, dass der Duktus der Prosa, die poetische Sprache Thomas Manns von der Nähe zur Lyrik sichtlich profitiert, dass sich zudem in den Erzählungen, Romanen, Briefen und Tagebüchern, oft versteckt und bisher kaum näher untersucht, immer wieder eigene Verse und freie Rhythmen finden.
Auch das Theater hat Thomas Mann nie aus dem Blick verloren. Noch zuletzt plante er, wie er Anfang März 1953 im Familienkreis erzählte, ein Drama mit dem Titel »Luthers Hochzeit«. Am 15. Juni 1955, müde und erschöpft nach den Feiern zu seinem 80. Geburtstag, kam er darauf noch einmal zurück: »Scham, weil sich der Luther-Stoff nicht bilden und zuspitzen will. Überhaupt das Gefühl, daß ich nicht mehr zu arbeiten weiß, nicht dazu zurückfinde.« Da hatte er noch acht Wochen zu leben.
Thomas Mann: Fiorenza, Gedichte, Filmentwürfe. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 3, hg. von Elisabeth Galvan, S. Fischer Verlag, geb., Textband 159 S., 20 €, Kommentarband 500 S., 42 Euro; zus. 54 €.
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