Drähte im Gehirn
Macht moderne Prothetik biologische Roboter oder perfekte Menschen aus uns?
Der Mensch will nicht sein, was er ist. Erst recht nicht, wie er ist. Seit der Antike sucht er sich zu veredeln: stärker, klüger, schöner zu sein als seinesgleichen. Die modernen Tricks sind Doping, medikamentöse Lernstimuli (nichts anderes als Gehirndoping), Schönheitsoperationen usw. Einen neuen Namen hat das Ganze auch: Human Enhancement.
Das Verständnis, was und wie der Mensch ist, wird inzwischen durch eine neue Qualität des Verhältnisses von Körper und Maschine geprägt. Die Daimler und Benz Stiftung, die seit Jahren ein anspruchsvolles Forum für die Diskussion zukunftsweisender Themen bietet, hatte ihr 18. Kolloquium den »MenschMaschine-Visionen« gewidmet. Untertitel: »Technik, die unter die Haut geht«. Die Fortschritte der Medizintechnik samt Anrainerdisziplinen ermöglichten es heutzutage, »die eigene Persönlichkeit mit technischen Mitteln zu verändern«, konstatierte Erhard Minx, Vorstandsvorsitzender der Stiftung.
Eine Entwicklung, die Hoffnungen wie auch Ängste nährt. Gruselige Mischwesen aus Organismus und Robotertechnik bevölkerten zunächst nur die Science-Fiction-Szene. Die Frage ist: Sinkt die Hemmschwelle, technische Ergänzungen des Organismus zu akzeptieren?
Ist der Ersatz leiblicher Komponenten besonders umfangreich, ergibt sich ein moralisches und ein juristisches Dilemma. Der Schriftsteller Stanislaw Lem hat dies bereits in der Kurzgeschichte »Gibt es Sie, Mr. Johns?« beschrieben. Es ist das Protokoll einer fiktiven Gerichtsverhandlung, in der sich ein fast vollständig aus Prothesen bestehender Rennfahrer gegen die finanziellen Forderungen des Herstellers der Prothesen wehrt. Sogar sein Gehirn ist durch die Luxusausführung eines Computers ersetzt worden. Letztlich stellt sich die Frage, wieviel »Mensch« in diesem Wesen noch vorhanden ist. Das Verfahren wird vertagt, weil die Richter keine Antwort wissen.
Für solche aus Organismus und Maschine bestehenden Hybriden wie Lems Rennfahrer haben der australische Wissenschaftler Manfred Clynes und der US-amerikanische Mediziner Nathan S. Kline 1961 den Begriff Cyborg geprägt, ein Akronym aus »cybernetic organism«. Gemeint sind Menschen, die technische Komponenten in sich aufnehmen, um ihre Fähigkeiten zu erweitern. Was ein echter Cyborg ist und was bloß ein halber, darüber streiten sich die Spezialisten. Jens Clausen, der an der Universität Tübingen eine Arbeitsgruppe für Neuroethik leitet, warnt davor, das Cyborg-Wort als personifiziertes Klischee zu gebrauchen: Einerseits als Spaßfolie (es gibt schon Vereine, die technische »Veredelung« des Körpers als Kult pflegen), andererseits als Bedrohung in der Annahme, dass ein »Cyborg« kein Mensch sei. »Ein Patient mit einem Implantat, auch mit einer Neuroprothese, die gewisse Hirnfunktionen steuert, bleibt natürlich ein Mensch«, macht Clausen klar.
Leistungssteigerung durch »Body Enhancement« hat längst die Bereiche der Fantasie verlassen. Prothesen in den menschlichen Körper einzusetzen ist gängige Praxis; manch älterer Zeitgenosse trägt schon mehrere Ersatzteile mit sich herum.
Man unterscheidet heute zwischen der Integration von Werkzeugen und Stimulatoren. Künstliche Knie- und Hüftgelenke, die allein mechanische Kräfte übertragen, können als »Werkzeug« verstanden werden. Aber die Grenzen sind fließend. Der symbolische Anstoß der Fußballweltmeisterschaft 2014 in São Paulo durch einen Querschnittsgelähmten war möglich durch eine Kombination: Einerseits sorgte ein äußerlich angelegtes Beinskelettpaar aus Stahl, Titan und Aluminium für Stabilität, andererseits war diese Konstruktion mit Elektroden auf dem Kopf verbunden, die Hirnsignale in elektrische Impulse wandelten, welche das »Maschinen«-Skelett in Bewegung setzten.
In diesem Fall war die Elektrode noch nicht unter die Haut implantiert worden, wie bei »echten« Neuroprothesen. Beispiele hierfür sind die Implantation elektronischer Hörprothesen bei Taubgeborenen und sensitiver Prothesen als Ersatz für Gliedmaßen (siehe unten). Einige Erfolge in der Therapie körperlich geschädigter Patienten beruhen auf der Elektrostimulation, deren populärstes Produkt zweifellos der Herzschrittmacher ist. Weltweit wurden mehr als 350 000 Herzschrittmacher implantiert. Der erste Mensch, dem 1958 ein Herzstimulator (ein Siemens-Produkt) eingesetzt wurde, war der Schwede Anne Larsson. Er ist 86 Jahre alt geworden, doch bis dahin musste der Herzschrittmacher 26-mal ersetzt werden.
Medizinisch, nicht zuletzt ethisch noch gravierender als die Koppelung von Prothesen an das periphere Nervensystem ist die Elektrostimulation des Gehirns. Durch Impulsgeber, die Herzschrittmachern ähnlich sind, können nicht nur Bewegungen koordiniert werden, sondern in der Folge auch Denken und Fühlen. Für Menschen, die zum Beispiel unter extremen Schüttelattacken leiden oder an psychiatrischen Krankheiten verzweifeln, bietet der Eingriff ins Gehirn mitunter die letzte Behandlungsmöglichkeit. Die erstaunlich guten Ergebnisse dürfen jedoch nicht verdrängen, dass der Hirnstimulation ein hohes Missbrauchsrisiko innewohnt. Mit Elektroden im Gehirn ist der Mensch zeitweise nur noch bedingt Akteur. Wollen wir uns darauf einlassen? Wollen wir, was wir können, auch wenn wir damit eine potenzierte »Schöne neue Welt« heraufbeschwören sollten?
Auf einige Gefahren des Missbrauchs mentaler Enhancement-Techniken verwies Reinhard Merkel vom Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Hamburg. So finanziert das US-amerikanische Verteidigungsministerium Forschungen, um Helme zu entwickeln, die mit Stromstößen ins Gehirn von Soldaten eingreifen, damit Ängste abgebaut und das Draufgängertum gefördert werden. Ein erster Schritt zur Fernsteuerung von Soldaten.
Jede Art externer Manipulation wurde auf dem Kolloquium einhellig als Verbrechen charakterisiert. Wie aber ist zu beurteilen, wenn Mann oder Frau sich einen elektronischen Speicher implantieren ließe? Diktiert dann der Mensch die inkorporierte »Maschine« oder umgekehrt?
Wir stehen offenbar an einer Zeitenwende, an der sich der Mensch freiwillig durch technische Ergänzungen des Körpers Vorteile zu schaffen versucht. Während der Kölner Neurochirurg Volker Sturm dafür plädierte, Enhancement-Techniken wie die Hirnstimulation ausschließlich zur Behandlung von Krankheiten zuzulassen, sprach sich Reinhard Merkel für eine höchstmögliche Selbstbestimmung des Menschen aus - und für strenge Regularien, wenn die Optimierung des Individuums anderen schaden könnte. Regularien auch, die verhindern, dass sich Menschen durch den Konkurrenzdruck der Gesellschaft gezwungen sehen, sich biotechnische Komponenten einzuverleiben. Falls sie genug Geld hinblättern - womit das Problem der sozialen Differenzierung angesprochen ist, denn über Jahrzehnte hinaus werden die Krankenkassen für die teure Technik nicht aufkommen können. Auf die Bedenken eines Diskussionsteilnehmers, ob die heutige Gesellschaft hinreichenden strafrechtlichen Schutz gegen Missbrauch biete, wurde mit einem klaren Nein geantwortet. Aber die Entwicklung geht dahin, dass die Verschmelzung von Mensch und Maschine keine Kuriosität mehr sein wird. Einige Teilnehmer des Kolloquiums betrachteten diese Entwicklung als eine logische Fortsetzung der Evolution. Dadurch ändert sich das Bild, das wir vom Menschen haben. Der Bürger des späten 21. Jahrhunderts wird mit und neben Cyborgs leben.
Neuroprothesen für Gliedmaßen
Thomas Stieglitz vom Institut für Mikrosystemtechnik der Universität Freiburg führte den Fall eines jungen Mannes vor, der bei einem Feuerwerksunfall eine Hand eingebüßt hat. Ihm wurde eine Handprothese mit beweglichen Fingern angepasst. Feine Elektroden im Oberarm koppeln den Mechanismus an das periphere Nervensystem. Diese Cyborg-Hand kann nicht nur Gegenstände greifen, sondern auch Formen erfühlen; der Patient erkennt, ob sie hart oder weich sind. Die Triebkraft sind seine Gedanken, die nach einem intensiven Training die Prothese bewegen. Drucksensoren an den künstlichen Fingern sorgen für die Rückkopplung und melden über die Nerven Informationen zum Gehirn. Hier gibt es schon eine weitgehende Harmonisierung von Mensch und Maschine. Bis zur Zulassung für die klinische Praxis rechnen die Experten mit einer Entwicklungszeit von noch zehn Jahren. GL
Elektrostimulation des Hirns
Um Folgen der Parkinson-Krankheit zu mildern, epileptische Anfälle zu unterdrücken sowie zur Behandlung schwerer Depression nutzen Neurochirurgen die »Tiefe Hirnstimulation«. Volker Sturm hat an der neurochirurgischen Universitätsklinik in Köln vielen parkinsongeplagten Patienten mit der Implantation eines Hirnschrittmachers helfen können. Bei der computergestützten Operation werden zwei kleine Löcher in die Schädeldecke gebohrt, durch die etwa acht Zentimeter lange Kabel bis zum sogenannten subthalimischen Nucleus mitten im Gehirn geführt werden. Die Elektroden an den Kabelenden speisen schwache elektrische Impulse ins Zentralnervensystem ein. Dadurch ändert sich die Konzentration von Botenstoffen und die Erregungszustände klingen ab. Bis zum heutigen Tag wurden in der Kölner Klinik mehr als 1200 Hirnschrittmacher eingesetzt. GL
Glossar
Cyborg: Ein Mensch, der seine körperliche oder mentale Leistungsfähigkeit durch technische Komponenten über natürliche Gattungsgrenzen hinaus steigert.
Enhancement: Steigerung menschlicher Leistungen durch externe Stimuli
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