Eine Musik von unten, ein Wurf
Premiere in der Werkstatt der Staatsoper: Karl Amadeus Hartmanns Oper »Des Simplicius Simplicissimus Jugend«
»Bilder einer Entwicklung aus dem deutschen Schicksal nach Johann Jacobb Christoffel von Grimmelshausen« nannte der Komponist ursprünglich seine Oper im Untertitel. Karl Amadeus Hartmann, geboren 1905, zum inneren Emigranten vor den Faschisten geworden, schrieb sie 1934 bis 1936. Ein Bekenntniswerk, wie er selbst zu Protokoll gab. Hartmann schuf ein episches Theater, dessen Sprechdialoge in den 50er Jahren von ihm teils umgemünzt wurden in Rezitative. Das Kammerorchester wurde Sinfonieorchester, das ganze Gebilde größer, opernhaft. Der damalige Münchener Betrieb wünschte das so. Und Hartmann, dessen Urfassung kaum Chancen hatte, aufgeführt zu werden, im Nazistaat ohnehin nicht, beherzigte es. Die Urfassung aber ist die weit bessere. Wie neugeboren erschien sie in der Werkstatt der Staatsoper, hochmotiviert inszeniert von der jungen Friederike Heller, musikalisch beherzt geleitet von dem gleichfalls jungen Adrian Heger. Ihm standen 16 Musiker der Staatskapelle zu Gebot, dazu ein den Raum ausnutzender Chor, bestehend aus Mitgliedern des hauseigenen Jugendensembles.
Eine alte Bibliothek. Stilistisch zuzählig einem traditionsbewusst ausgesuchten Interieur der 30er Jahre, Hartmanns Zeit, als er die Oper - geängstigt, verwirrt, rebellierend wider die dunklen Horden - schrieb. Wo bin ich? Die Zuschauer sitzen zwischen Bücherwänden. Eingesperrt? Umzingelt? Unmittelbar vor ihnen die Hauptspielfläche. Banges steht bevor. Es soll von allen Seiten kommen. Krieg! Brandschatzung. Geklirr aus den Ecken. Unendliches Leid. Behelmte Landsknechte befriedigen ihre Wutgelüste. Speere blitzen. Fackeln leuchten auf brennende Bücher.
Essenz von Oper wie Inszenierung: Ein Wissen um die Lage der Verlassenen, Verachteten bricht sich Bahn, ein Aufbegehren. Wo bin ich? Das ist die alles durchdringende Metapher. Nicht nur für Simplicius, diesen weltfernen, naturkindlichen, scheinbar närrischen, in die kriegerischen Zustände unabänderlich gestellten Jungen, der sich letztlich immer zu helfen weiß, der Glück hat und schelmisch-unschuldigen Witz, sondern für alle. Für den Landsknecht (Bernhard Hansky) so sehr wie für die Hure, die benutzt, geworfen und weggeworfen wird. Für den Gouverneur (Jonathan Winell) nicht minder als für den Hauptmann (Jacob Ahles).
Den Simplicius singt hier ein Mädchen, direkt vor dem Publikum. Ganz nahe rücken also die Lieder ans Ohr, begleitet von den expressiven Gebärden des Orchesters auf der Empore. Inszenatorisch zentral: ein Raum, gefüllt mit Geist, Erkenntnis, muss es sein, worin die Hölle wohnt, worin sich der Widerstand aufbaut. Ins Auge fällt der Schreibtisch mit Papieren, Büchern, Feder und Flasche. Er hat ein Schlupfloch. Simplicius ist der, der ausschlüpft. So gebiert ihn die Oper, wie sie hier zu sehen ist. Ein Hirte, der die Schafe vor den Wölfen schützen soll, ein junger Mensch, ins Gewand der Armut, der Unwissenheit getaucht, singend so anmutig wie eindringlich, dass es einem über den Rücken geht. Desgleichen die Stimme des Einsiedel, des aufgeklärten Naturburschen mit Bart und Fuchsfell, in zerschlissenen Militärhosen und kaputten Stiefeln. Er, von tiefer Religiosität erfasst, ein Sänger, der so herrlich singt wie die Nachtigallen, welche sich mit dem leisen Gegurre der sonstigen Tierwelt im Walde paaren, er führt ihr den Weg, er erklärt Simplicius seine wirkliche Lage und wie er sie ändern kann, er gibt ihr singend Einblick ins menschliche Seelenheil. Zwei große Rollen, eindringlich gesungen von Anna Alas i Jové und Magnus Hallur Jónsson, zwei Künstler von hoher Begabung.
Die Figur Hartmanns tritt als Sprecher und Mentor des Paares selbst auf (Thomas Schumacher). Aus Grimmelshausens Roman, geografisch, lebensgeschichtlich weit ausgreifende Ich-Reflexion auf den Dreißigjährigen Krieg, wurde bekanntlich ein Volksbuch, ungleich mehr gelesen als die Gedichte von Opitz, Gryphius, Gerhardt, die vom Krieg handeln und die Wünsche, Leiden und Qualen der Unterschichten ausdrücken. Mit Gryphius’ »Tränen des Vaterlandes« anno 1636 hebt die Oper an. Gesprochen von dem auf die Szene gebrachten Komponisten.
Hermann Scherchen, als Dirigent neuer Musik eine Berühmtheit damals, Sozialist - während des Kalten Krieges verlor er in der Schweiz sämtliche Ämter -, regte den jungen Hartmann seinerzeit an, die Oper zu schreiben. Scherchen selber konzipierte das Libretto. Ein Wurf. »Des Simplicius Simplicissimus Jugend«, konzipiert als eine Musik von unten, ist großes Musiktheater. Es ist aktuell, bleibt es, leider. Es öffnet mehrere Perspektiven in den Koordinaten geschichtlicher Zeit.
Der Inszenierung Amt verlangt es, dieselben klar und anschaulich vorzuführen. Das gelang aufs Eindringlichste (auch im Musikalisch-Technischen darf die Inszenierung als meisterlich gelten). Das Vorgeführte bleibt keinesfalls stehen beim Dreißigjährigen Krieg. Dessen Verheerungen wie Verbrechen erscheinen zugleich als Spiegel der Untaten des deutschen Faschismus (Szene der Bücherverbrennung), und diese führen gedanklich in die heutigen hochmodern organisierten Zerstörungen, Schrecknisse, Zynismen.
Die Schlussszene lässt eine junge schwarze Gruppe hervorpreschen, die Fäuste erhoben. Sie löscht die verhurten Unterdrücker, die besoffene Kriegskamarilla mit einem Schlage aus. Um ein Drittel wurde im 17. Jahrhundert die deutsche Bevölkerung dezimiert. Die Zahlen, gesprochen von Hartmann, stehen am Anfang und am Schluss. Welche Bilanz schon in jenen Tagen. Die Zuschauer sollen, so die Intention der Aufführung, hartnäckig bestehen auf ihr Votum gegen den Krieg. Wider die Feuersprüche der modernen Erkenntnis- und Wissensauslöschung, wider die Vernichtungen im Jetzt. Dies ist die Botschaft dieser bedeutenden Arbeit.
Nächste Vorstellung: 1.10.
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