Professor Ungleichheit
Er sei eine Plaudertasche, sagt Thomas Piketty über sich. Besuch beim derzeit berühmtesten Ökonomen der Welt
Thomas Piketty wirkt entspannt, tritt in Jeans und weißem Hemd auf. Seine offene Art macht ihn sofort sympathisch. Er ist gesprächig, erklärt mit großer Ausdruckskraft und oft mit den Händen. Er füllt problemlos den Raum in seinem winzigen Büro in der Paris School of Economics, »das gerade genug Platz fürs Arbeiten lässt, aber kaum für Besucher«, wie er warnt.
Im Gespräch kommt er in Fahrt, er lächelt oft, seine Augen strahlen. Er redet gern und gut. Man versteht, weshalb er bei seinen Studenten so beliebt ist. »Er hat die Fähigkeit, komplizierte Dinge auf sehr einfache Weise zu erklären«, bestätigt Mathieu Valdenaire, einer seiner Doktoranden. Stolz, doch keineswegs selbstgefällig bleibt er seinem Gesprächspartner gegenüber aufmerksam und entschuldigt sich fast: »Ich bin eine wahre Plaudertasche.« Vor allem aber verbirgt der 43-Jährige hinter seinen jungenhaften Zügen eines ewigen Studenten eine bereits beeindruckende Erfolgsbilanz.
Piketty ist am 7. Mai 1971 im Pariser Vorort Clichy zur Welt gekommen. Von seinem familiären Umfeld spricht er nur ungern und tut es als »uninteressant« ab. »Meine Familie hat mich geprägt, aber wem geht das nicht so?« Die zum Teil sehr entgegengesetzten Einflüsse seiner Kindheit sind jedoch keineswegs banal. Seine Eltern, die in ihrer Jugend aktiv die Utopien und Unruhen von 1968 miterlebt hatten, verließen Anfang der 1970er Jahre Paris, um in Südfrankreich Ziegen aufzuziehen - ein alternatives Experiment, das letztlich scheiterte. Pikettys Mutter arbeitet heute als Grundschullehrerin. Seine Großeltern väterlicherseits hingegen gehören der Pariser Bourgeoisie an, sind streng katholisch und sehr konservativ. Beide Milieus, vor allem aber die Kluft zwischen ihnen, prägten ihn von klein auf.
Der überdurchschnittlich begabte Schüler wird mit 18 Jahren in die angesehene Hochschule École Normale Supérieure aufgenommen. Er ist ausgezeichnet in Mathematik, möchte sich aber nicht auf diese Disziplin beschränken und orientiert sich fast durch Zufall auf die Wirtschaftslehre. »Ich war noch ein halbes Kind und hatte keine Ahnung, was genau Volkswirtschaft ist, aber mir schien das der beste Weg, zugleich auch soziale Themen und Geschichte zu behandeln.« Heute reagiert er fast allergisch, wenn er als Ökonom bezeichnet wird. Für ihn ist das ein »hohles Wort«. Er selbst bezeichnet sich als Sozialwissenschaftler. Der Student und spätere Doktorand Piketty ist »ein wahres Arbeitstier«, erinnert sich sein früherer Kommilitone Jacques Le Cacheux, heute Professor in Pau und Experte des Konjunkturrates. »Ich kenne ihn nun schon seit 20 Jahren. Wenn er sich in die Arbeit stürzt, kann er sich monatelang von der Welt abkapseln und ist dann für niemanden zu sprechen.«
Das Ereignis, das Thomas Piketty in seiner Jugend am meisten geprägt hat, war das Ende der Sowjetunion. Er will verstehen, warum es dazu kam: »Wie hat die Sowjetunion eine Idee, die eigentlich emanzipatorisch sein sollte, in ein derart absurdes System umsetzen können?« Er kann sich mit diesen Fragen relativ frei ausein-andersetzen. Er gehört einer Generation an, die nicht mehr für oder gegen den Kommunismus Stellung beziehen musste. »Ich sage nicht, dass Marx oder Ricardo in allem Recht hatten, aber sie haben die richtigen Fragen gestellt«, so Piketty.
Die Ungleichheit wird zum Hauptthema seiner Forschungsarbeit. Mit 22 Jahren promoviert Piketty zur Umverteilung von Reichtum. Seine Doktorarbeit wird zur besten im Frankreich des Jahres 1993 gekürt. Dies ist nur die erste einer ganzen Reihe von Auszeichnungen, die er im Laufe der Jahre erhält, darunter der Preis des besten jungen Ökonomen Frankreichs. Zwischen 1993 und 1995 ist er in den USA Gastprofessor am prestigereichen Massachussetts Institute of Technology. Seit 2000 unterrichtet er in der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. »Ich unterrichte sehr gern. Es ist immer eine Bereicherung, mit Studenten zu debattieren, mit Menschen, die noch die Zeit haben, ein so dickes Buch zu lesen«, sagt er schmunzelnd. 2006 gehört Piketty zu den Gründern der Pariser School of Economics, die er bis 2007 leitet und an der er heute noch unterrichtet. Diese Schule hat sich zum Ziel gesetzt, die besten Studenten und Wissenschaftler zusammenzuführen, um Frankreich einen Platz in der internationalen Wirtschaftsforschung zu verschaffen, die seit langem von den Engländern und Amerikaner dominiert wird.
In seinem Buch »Das Kapital im 21. Jahrhundert« hat Thomas Piketty in Zusammenarbeit mit anderen Wirtschaftsexperten aus der ganzen Welt eine bisher beispiellose Menge an Zahlen und Fakten über die Ungleichheiten im Bereich der Reichtümer und Einkommen in mehr als 20 Ländern zusammengetragen, vom Beginn der Industriellen Revolution bis zum heutigen Tag. »Ich wollte in dieses Buch all das einbringen, was ich in 15 Jahren über Geld gelernt habe, und mich dafür so weit wie möglich auch von den rein technischen Aspekten lösen, damit es sich wie ein Roman liest.« Im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsexperten, insbesondere in den USA, erweitert Piketty seine Forschungsarbeit durch zahlreiche Verweise auf Geschichte, Soziologie, Politologie und auch Literatur. Großen Eindruck machten nicht zuletzt seine literarischen Verweise auf Honoré de Balzac und Jane Austen. »Ich habe mich in dieses Projekt gestürzt, ohne zu wissen, was ich finden würde«, versichert Piketty. »Ich war der Meinung, dass diese Methode notwendiger ist als das sture Beweisen abstrakter Theoreme. Das tun schon andere Ökonomen, mich hat das schnell gelangweilt.«
Zum Riesenerfolg des Buches in den USA haben dann die oft euphorischen Rezensionen einflussreicher amerikanischer Wirtschaftsexperten wie James Kenneth Galbraith, Joseph Stiglitz, Stephen Durlauf und nicht zuletzt das Urteil von Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman beigetragen. In den USA wird Piketty nicht nur in die berühmtesten Fernsehtalkshows eingeladen. Er war auch schon Gast im Weißen Haus und debattierte mit Finanzminister Jacob Lew sowie dem Wirtschaftsberaterteam von Barack Obama.
Wie erklärt sich Piketty selbst diesen phänomenalen Erfolg seines Buchs in den USA? »Die Geschichte der Ungleichheit stößt dort auf ein besonderes Interesse, da sie den derzeitigen Sorgen der Amerikaner entspricht«, ist er überzeugt. »In den USA fühlt man sich umso direkter von dem Problem betroffen, als es in diesem Land eine wahre Tradition der Chancengleichheit gibt.«
Doch wenn Piketty empfiehlt, die großen Vermögen und Einkommen stärker zu besteuern, um das Geld an die weniger Reichen umzuverteilen, dann heulen die Neoliberalen auf. Das »Wall Street Journal« tut den französischen Wissenschaftler als »Utopisten« ab, und bezichtigt ihn, das sowjetische Modell zu idealisieren. Andere werfen ihm seine wissenschaftlich unkonventionelle Vorgehensweise vor. »Das ist Pop Economics«, spottet ein Kollege. Doch Piketty steht zu seinem Stil. Auf Kongressen baut er seine Argumente gerne auf persönliche Erfahrungen auf. Wenn er über Bildung und die Vorteile der Kostenfreiheit spricht, dann erzählt er von seinen Jahren als Student in den USA, die nur durch ein Stipendium möglich waren. Zu Fragen der Familienpolitik plaudert er gerne über seine drei Töchter, die er vergöttert.
In Frankreich wurde »Das Kapital im 21. Jahrhundert« in den Medien und in Wirtschaftskreisen gelobt, von den politischen Eliten jedoch souverän ignoriert. In den Élysée wurde er nicht eingeladen. Piketty gehört keiner Partei an, fühlt sich jedoch den Sozialisten nahe. Im Präsidentschaftswahlkampf 2007 beriet Piketty Ségolène Royal, 2012 bezog er Stellung für den Kandidaten François Hollande, für den er auch eine große Steuerreform verfasste - ein Wahlversprechen, das der frisch gewählte Präsident dann aber ganz schnell wieder vergessen hat. Aus seiner Enttäuschung über ihn und die regierenden Sozialisten macht Piketty seitdem keinen Hehl. »Ich habe den Eindruck, dass Hollande vor den Wahlen nicht groß darüber nachgedacht hat, welche Politik er betreiben wolle. Man wird das Gefühl nicht los, dass er permanent improvisiert.«
Ein stärkeres politisches Engagement lehnt er jedoch ab. Seine Arbeit und seine Bücher seien sein Beitrag zur demokratischen Meinungsbildung und zur sozialen Mobilisierung. »Das einzige, was Politiker wirklich beeindruckt, ist die öffentliche Meinung, und die kann ich schreibend beeinflussen. Ich habe großes Vertrauen in die Macht von Büchern und Ideen.« Auf die Frage, ob der französische Präsident sein »Kapital« gelesen habe, antwortet er mit einem verschmitzten Lächeln: »Ich frage mich, ob François Hollande überhaupt Bücher liest.«
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