Peter und die Pietà

Vor 100 Jahren starb der jüngste Sohn Käthe Kollwitz’ in Flandern - sein Verlust beeinflusste ihr Lebenswerk

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Der 18-jährige Peter Kollwitz starb gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Sein Tod prägte das pazifistische Bewusstsein und die Kunst seiner weltberühmten Mutter Käthe Kollwitz nachhaltig.

Dass Käthe Kollwitz’ Kunst zeitlos ist, zeigt sich im Guten - wie im Verschämten: »Trauerndes Elternpaar«, die Plastik der Kollwitz zum Verlust ihres jüngsten Sohnes Peter im Ersten Weltkrieg, steht seit wenigen Wochen in einer Kopie zum Gedenken der Opfer auch des Zweiten Weltkrieges - darunter ihres gleichnamigen Enkels Peter - im russischen Rschew, 200 Kilometer westlich von Moskau. Und: Die Deutsche Post gab kürzlich zum 100. Jahrestag des Weltkriegs die zum berühmtesten Plakat der Friedensbewegung gewordene Zeichnung »Nie wieder Krieg!« (1924) als Sonderbriefmarke heraus, ohne auf ihr den Namen der Künstlerin zu erwähnen …

Solche Nadelstiche waren Käthe Kollwitz (1867-1945), der Frau aus bürgerlich-sozialdemokratischem Milieu in Königsberg, schon zu Lebzeiten geläufig: Ihre Zeichnungen von Armen, Arbeitslosen und anderen Beladenen zu Gerhart Hauptmanns »Weberaufstand« hatte der Hof unter Deutschlands letztem Kaiser missbilligend (Wilhelm II.: »Rinnsteinkunst«) übersehen. Auch ihre Berufung 1919 als erstes weibliches Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und die Verleihung des Professorentitels änderten wenig daran, dass die Anwältin der Opfer von Krieg und Gewalt vom Establishment gern links liegen gelassen wurde. Käthe Kollwitz, die in Berlin und München ihre Malausbildung erfahren, in Paris die Grundlagen plastischen Gestalten erlernt hatte und namentlich von Auguste Rodin beeinflusst wurde, war mit ihrer Kunstauffassung und mit ihren Themen keine Staats-, eher eine Volks-Künstlerin.

Lebenslang künstlerisch geprägt wird Käthe Kollwitz vom frühen Tod ihres jüngsten Sohnes Peter in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1914 nahe Diksmuide (siehe Randspalte), vor 100 Jahren, in der ersten der vier großen Flandernschlachten. Als die Familie von Käthe und dem Armenarzt Karl Kollwitz am 30. Oktober 1914 die Nachricht erhält, »Ihr Sohn ist gefallen«, hält die Mutter für sich fest: »Von da an datiert für mich das Altsein. Das dem Grabzugehen. Das war der Bruch.« In den Schmerz der Eltern bohrt sich der Zweifel, ob der Tod des Achtzehneinhalbjährigen nicht hätte verhindert werden können. Der Minderjährige hatte sich nur mit Erlaubnis seiner Eltern als Kriegsfreiwilliger melden dürfen.

Die erste künstlerische Reaktion auf den Verlust lässt nicht lange auf sich warten. Doch sie zielt anfangs in eine andere Richtung als - viel später - das fertige Kunstwerk. Von ihm sagen heute deutsche wie belgische und britische, französische oder kanadische Besucher der vielen Kriegsgräberstätten in Flandern, es sei das eindrucksvollste aller Denkmäler an der einstigen Westfront: die Doppelplastik »Trauernde Eltern«.

Wie andere Künstler in der Frühphase des Weltkriegs ist Käthe Kollwitz nicht unberührt von der Woge des Patriotismus, die Deutschland flutet. So kommt es, dass sie den Akzent für ihre künstlerischen Anfangspläne auf die Ehrung der jungen Kriegsfreiwilligen, auf das Hervorheben des Heldischen legt. Doch das hält nicht vor bei einem Menschen, dessen Grundhaltung Beobachten, Hinsehen und Nachdenken prägen und der, könnte man sagen, den Tod zum vielleicht größten Thema seines künstlerischen Lebens macht.

Aus dem erwogenen Ehrenmal für Peter wird so, in langem Prozess, ein Mahnmal. Er kommt erst 1932 zum Abschluss, als die Doppelplastik aus belgischem Granit, im Beisein von Käthe und Karl Kollwitz, deren Gesichtszüge das »Trauernde Elternpaar« trägt, von belgischen Arbeitern auf dem Soldatenfriedhof in Esen-Roggevelde aufgestellt wird. Jede Verherrlichung ist da verflogen, an ihre Stelle getreten die Unverrückbarkeit von Verlust und Leid, die Gewissheit sinnlosen Opfers. Hans Pels-Leusden, Gründungsdirektor des Berliner Käthe-Kollwitz-Museums in Charlottenburg: »Ihre Kunst ist völlig eigenwüchsig und trägt alle Merkmale des Genialen. Ihre Sprache verstehen die Menschen aller Zungen, während immerhin so bedeutende Meister wie z.B. Thoma und Menzel nur in Deutschland, oder allenfalls in den deutsch-sprachigen Räumen, eine dauernde Resonanz finden.«

Die Figur »Trauerndes Elternpaar«, die in den 50er Jahren, nach Käthe Kollwitz’ Tod, ebenso wie das Grab von Sohn Peter auf den deutschen Soldatenfriedhof Vladslo, in einem Wald zwanzig Kilometer südlich von Ostende, kommt, ist keine Kampfkunst, sondern so individuell wie beste Kunst in ihrer Hoffnung auf universelles Verständnis. Darin ähnelt sie den vielen - in fünf Jahrzehnten rund hundert gemalten, radierten und gezeichneten - Selbstbildnissen der Kollwitz. Auch diese entstehen nicht aus Narzissmus, vielmehr aus dem Tiefenblick, auf ungeschminkter Suche nach Selbsterkenntnis. Und während Bilder wie »Nie wieder Krieg!« Kollwitz’ erklärtem Ziel »Ich will wirken« entsprechen, ihrem Anspruch »Ich will, dass meine Kunst Zweck hat«, wirken Kunstwerke wie »Trauerndes Elternpaar« vorrangig durch Ergriffenheit, die aus Betrachtung und Betroffenheit hervorgeht. »Trauerndes Elternpaar« steht in diesem Punkt in einer Reihe mit der »Pietà«, Käthe Kollwitz’ bekanntester Plastik, jener knapp 40 Zentimeter großen Bronzestatue, in der die Pazifistin, Sozialistin und Antifaschistin 1937/38 einmal mehr den Verlust ihres Sohnes Peter verarbeitete.

Die Plastik gerät, vierfach vergrößert und von Harald Haacke (Jahrgang 1924) leicht verändert, in den Blickpunkt der Tagesdebatte, als die Neue Wache Unter den Linden auf Anregung des damaligen Bundeskanzlers Kohl (Jahrgang 1930) zum Volkstrauertag 1993 als Zentrale Deutsche Gedenkstätte mit der Kollwitz-Pietà eröffnet wird. Sie steht im leeren Raum auf einer Granitplatte, die die Inschrift trägt: »Für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft«. Kritische Einwände, die die Widmung u. a. wegen der Gleichsetzung von Opfern und Tätern sowie des die Juden ausgrenzenden christlichen Motivs begleiteten, führen zu einer Ergänzungstafel, auf der die verschiedenen Opfergruppen aufgeführt sind, derer gedacht werden soll: die Gefallenen der Weltkriege, die ermordeten Juden, Sinti und Roma, die Euthanasieopfer und andere von den Nazis verfolgte Gruppen, die antifaschistischen Widerstandskämpfer und die vom Stalinismus Verfolgten. Die Kollwitz-Erben, so berichten Medien, hätten für den Verbleib der »Pietà« in ihrer reproduzierten Vergrößerung in der Neuen Wache die Bedingung gestellt, dass »die Generäle Scharnhorst und Bülow dauerhaft verschwänden«.

Der Pazifismus der Kollwitz ist zu diesem Zeitpunkt gesicherte Erkenntnis und in ihrer Kunst vielfach Gestalt geworden. Wiederholt im klassischen Pietà-Motiv aus der Jesus-Geschichte, der um ihren gemordeten Sohn trauernden Mutter. Die Weltkriege, die Käthe Kollwitz erlebt und mit dem Verlust von Sohn wie Enkel bezahlt, bestimmen nicht allein, aber maßgebend ihr Werk. Bis kurz vor ihrem Tod wenige Wochen vor Kriegsende, als sie eine Mutter malt, die unter dem Mantel ihre Kinder versteckt - ihr Protest dagegen, dass nun, in Hitlers »Endkampf«, auch Halbwüchsige an die Front geschickt werden.

Dieser Protest nimmt einen Gedanken auf, dem Käthe Kollwitz schon einmal, 1918, gegen Ende des ersten Weltenbrands, Gehör zu verschaffen sucht: Im sozialdemokratischen »Vorwärts« veröffentlicht sie ihre aufsehenerregende Entgegnung auf den Appell des Lyrikers und Schriftstellers Richard Dehmel (1863-1920), weiterzukämpfen: »Es ist genug gestorben! Keiner darf mehr fallen! Ich berufe mich gegen Richard Dehmel auf einen Größeren, welcher sagte: ›Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden‹ (Goethe).« Zu dieser Zeit liegt der Tod ihres Jüngsten in der Blutmühle von Flandern vier Jahre zurück. Überwunden hat sie ihn nie, gestaltet immer wieder.

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