Den Kasten am Laufen halten
Wer von Hans Martin Kühnel durch die »Flora« geführt wird, verabschiedet sich von Vorurteilen.
In Hamburg kennen alle die Fassade der auch bundesweit bekannten Roten Flora, aber nur wenige die Aktiven, welche »den Kasten mit am laufen halten« wie es Hans Martin Kühnel, Jahrgang 1960, ausdrückt. Er engagiert sich seit 25 Jahren unbezahlt in Hamburgs bekanntestem autonomen Zentrum Rote Flora. Und ist damit ebenso lange dabei, wie die Flora rot und besetzt ist. Durch die ganzen Jahre blieb er neben Studium und Lohnarbeit diesem Ort der Subkultur und des radikalen linken Protests verbunden.
Die erste Nacht der Besetzung auf den 1. November 1989 hat Hans Martin Kühnel nicht in dem ehemaligen Varietétheater »Flora« an der Straße Schulterblatt im Hamburger Schanzenviertel verbracht. Er stand vor einer nahe gelegenen Polizeiwache und beobachtete, ob dort Aktivitäten für eine Vorbereitung zur Räumung stattfanden: »Damals gab es ja noch keine Handys, dass war alles schon sehr aufwendig«, meint er. Mit 29 Jahren gehörte er damals zu den älteren unter den BesetzerInnen. »Die ersten fünf, sechs Jahre habe ich mich voll reingehängt, war jede Woche etwa 20 Stunden im Kasten, fast jeden Abend, neben Studium und Jobben«, erzählt er mit einem Lachen: Das war damals neben dem Studium noch alles möglich.
Ursprünglich kommt er aus Cuxhaven, der kleinen Hafenstadt an der Elbemündung. Für seine Eltern war ihre Herkunft als »Heimatvertriebene« aus Schlesien wichtig, gewählt wurde CDU, sein Vater war Pastor. Hans Martin war als Jugendlicher politisch interessiert, konnte seine Kriegsdienstverweigerung pazifistisch begründen. Nach dem Ersatzdienst im Altersheim ging es 1981 zum Studium nach Hamburg, »dort habe ich mich politisiert«. Im ersten Seminar im Hauptfach Geschichte ging es um die kubanische Revolution, er wurde in den Gremien der studentischen Interessenvertretung aktiv - Erstsemestergruppe, Fachschaftsrat, Studierendenparlament. »Finde ich nach wie vor richtig, dass gemacht zu haben, wobei ich heute diese Stellvertreterpolitik kritischer sehe«, stellt er rückblickend fest. Auch im gerade gegründeten, ökosozialistisch orientierten Landesverband der Grünen war er Mitglied. Die hießen in Hamburg »Grün-Alternative Liste«, und Hans Martins Unigruppe beteiligte sich am »Blockadeplenum«, dem radikaleren Flügel der Anti-Kriegsbewegung in der Stadt. Als im Juni 1986 eine spontane Anti-Atom-Demonstration von Polizeikräften umstellt und festgesetzt wurde, war er dabei und musste viele Stunden im »Hamburger Kessel« ausharren: »Wer noch Illusionen über den bundesdeutschen Rechtsstaat hatte, verlor sie hier«, erinnert sich Kühnel. Sie wurden von den Polizisten schikaniert, ohne Trinken, Essen und Toilettenzugang zusammengepfercht. Ein einschneidendes Erlebnis, das seine Distanz zum Staat vergrößert hat.
Die Besetzung der Flora hat eine Vorgeschichte. 1987 war ein bewegtes Jahr für Hamburgs Linke: Es war das Jahr der Barrikadentage rund um die besetzten Häuser an der Hafenstraße. Eigentlich galt in Hamburg die vom sozialdemokratischen Innensenator Alfons Pawelczyk verkündete Doktrin, dass kein Haus länger als 24 Stunden besetzt bleibt, bevor es polizeilich geräumt wird. Die Besetzung an der Hafenstraße begann heimlich mit einzelnen Wohnungen, in den sechs Häusern wohnten über 100 BesetzerInnen aus der autonomen und antiimperialistischen Szene der Stadt, die bereit waren, die Häuser unter hohem persönlichen Risiko militant zu verteidigen. Im Herbst spitzte sich die Lage zu, die Polizeiführung bereiteten die Räumung vor, UnterstützerInnen errichteten rund um die Häuser massive Barrikaden. Der Erste Bürgermeister, Klaus von Dohnanyi, SPD, konnte seine Genossen um Pawelczyk nur mit Mühe vom Showdown abhalten. Die Grünen hatten Monate zuvor beschlossen, die Akzeptanz der Besetzungen in der Hafenstraße bei möglichen Koalitionsverhandlungen mit der SPD nicht zur Bedingung zu machen. Für Hans Martin Kühnel war dies der Grund, aus den Grünen auszutreten. Während der Solidaritätskampagne für die Hafenstraßenbesetzungen hatte er die aktive und durchsetzungsfähige autonome Szene näher kennengelernt. »Ich hielt es grundsätzlich für richtig, die Häuser militant zu verteidigen.« Er begann, sich an den Debatten und Aktivitäten der autonomen Szene zu beteiligen.
1988 plante ein Musicalunternehmen, auf dem Schulterblatt ein Musicaltheater zu bauen - gigantisch, mit 3000 Plätzen, in dem täglich das »Phantom der Oper« aufgeführt werden sollte. Das alte Varietétheater Flora sollte dafür nur als Kopfbau erhalten bleiben und einen riesigen Anbau bekommen. Die in Hamburg regierende SPD förderte das Vorhaben über alle lokalen Einwände hinweg, um die Stadt als Musicalstandort auszubauen. Breiter Protest regte sich, Autonome konnten bei ihren zahlreichen Aktionen gegen das Bauvorhaben und die stets präsenten Polizeieinheiten mit großer Akzeptanz im Stadtteil rechnen. »Da ging meine Flora-Geschichte los«, sagt Hans Martin Kühnel. Er wurde Teil des Widerstands gegen das »Phantom der Oper« und war auch bei den »Scharmützeln« da.
Kühnel steht für eine Offenheit der Flora, die nicht von jedem autonomen Besetzer geteilt, und schon gar nicht gelebt wir: Seit Langem ist er auch im Stadtteilarchiv St. Pauli aktiv, das Rundgänge im angrenzenden Schanzenviertel veranstaltet. »Ich glaube, Leute, die mit mir ganz skeptisch in die Rote Flora reingehen, kommen anders raus.« Dabei hilft ihm sein ruhiges, offenes Auftreten, sein Interesse an einer gleichberechtigten Kommunikation. Und seine langjährige Aktivität in der Roten Flora: Er kann von Beginn an berichten.
Die heftigen Proteste gegen das neue Musicaltheater hatten Erfolg. Im Sommer 1988 wurde klar, dass es außerhalb des Viertels an einer Hauptstraße errichtet wird. In autonomen Gruppen begannen die Planungen für eine Nutzung des alten Flora-Theaters. Kühnel wurde angesprochen, ob er bei einer Motorradselbsthilfewerkstatt mitmachen würde: »Wir haben uns schon in der Flora getroffen, sind über den Zaun geklettert.« Das leerstehende Gebäude wurde neu belebt. 1989 bot der Oberbaudirektor Hamburgs Gruppen aus dem Stadtteil das Gebäude zur zeitweiligen Zwischennutzung an. »Wir waren in einer Art Hochstimmung, nachdem wir gegen das ›Phantom der Oper‹ gewonnen hatten«, erinnert sich der Altautonome Kühnel gerne. Die Besetzung und der Protest davor gehören für ihn zu den »prägendsten Erfahrungen« seines Lebens. Er baute Räume mit aus: im Parterre für die Motorradselbsthilfe, im ersten Stock das Café »Volxküche«. Die Werkstatträume werden bis heute genutzt, es gibt feste Öffnungszeiten, an denen jeder zum Schrauben vorbeikommen kann.
Die Zwischennutzung endete am 31. Oktober 1989, danach, am 1. November, wurde das Gebäude besetzt. Die damals kursierende Rede von »unserem Viertel« sieht Hans Martin Kühnel kritisch: »Wir waren viele, aber ich hatte nie das Gefühl, dass wir die Mehrheit sind, obwohl wir wohlgelitten waren.« Eine typische Aussage für Kühnel - er äußert sich immer etwas skeptisch, hinterfragt allzu optimistische Aussagen des eigenen politischen Spektrums. Großsprecherei ist nicht Seins, eher eine zurückhaltende Bestimmtheit. So ist die Rote Flora für ihn ein idealer Ort, um sich zu engagieren, denn hier trifft sich der selbstkritische Flügel der Hamburger Autonomen, der auch mal eigene Gewissheiten verabschiedet.
Dazu gehört, unterschiedlicher Meinung zu sein, etwa bei der Frage, für wen die Rote Flora zur Nutzung offenstehen sollte: In der Anfangszeit der Besetzung veranstaltete Kühnel mit anderen gemeinsam die »Altennachmittage« und die »Erzählcafés« für Anwohnende, die früher vielleicht schon im Varietétheater Flora waren. »Die Parole ›Flora für Alle, sonst gibt’s Krawalle‹ - habe ich wirklich ernst genommen«, betont er. »Damit meinte ich nicht wirklich Alle, aber auch nicht nur den autonomen Sumpf.« Aktiv beteiligt sich Kühnel, der im Hauptberuf Buchhalter ist, an der Verwaltungsarbeit: »Ich baue immer noch mit, organisiere den Kasten.« Der Schornsteinfeger, der Wasserableser und viele andere kennen ihn und rufen bei ihm an. Auch wenn es darum geht, dass Geld zusammenkommt, damit »solche Dinge bezahlt werden können«. In der Flora wird niemand bezahlt, alle Aufgaben werden unentgeltlich erledigt, damit die Selbstbestimmung nicht eingeschränkt wird. Denn wenn Jobs und Lohn an der Fortexistenz der Roten Flora hängen, würde dies Abhängigkeiten schaffen, die möglicherweise den Umgang mit der Besetzung beeinflussen, so Hans Martin Kühnel.
Wer die Rote Flora von innen kennenlernt, verabschiedet sich schnell vom Vorurteil, Autonome würden alles zerstören oder seien destruktive Chaoten. Hans Martin Kühnel schätzt die geteilte Verantwortung, die soziale Bereitschaft, ohne Bezahlung oder Belohnung mitzuarbeiten - seit 25 Jahren. Trotzdem ist er seltener als früher im Gebäude. »Ich habe nicht mehr die Energie.« Dabei ist er nach wie vor viel auf Achse. Nicht nur für die Rote Flora. Seine Freundin wohnt in der Lüneburger Heide, dort stehen auch seine Bienen, er ist Hobbyimker. Seinen Honig gibt er an Bekannte weiter. Manchmal fehlt die Zeit für die Freundin, meint Hans Martin Kühnel. Denn für den Lebensunterhalt jobbt er noch ein paar Stunden die Woche als Hausmeister in einem Kinderladen. Und baut seit anderthalb Jahren einen neuen Kollektivbetrieb mit auf, den Kaffeehandel »Aroma Zapatista«. Der verkauft Kaffee von Kooperativen aus dem Aufstandsgebiet in Südmexiko. Auch die zapatistischen RebellInnen kämpfen gegen Unterdrückung, Fremdbestimmung und Ausbeutung, für Autonomie - wie die Aktiven der Roten Flora.
Unschön findet er die niedrige Rente, die ihn erwartet. Aber kleinkriegen lässt er sich davon nicht. Er ist sozial fest eingebunden. Bevor er in den Urlaub fährt, besucht er noch die kranke Mutter seiner Freundin, bringt Farbe im Kinderladen vorbei und trifft sich mit einem Anwalt der Roten Flora. Er ist immer ein bisschen auf dem Sprung, aber: »Jeden Tag gönne ich mir eine Auszeit mit einer Zeitung im Café.« Auf die Frage, ob ihm dass nicht manchmal zu viel wird, erwidert er verschmitzt: »Das ist nicht ganz altruistisch. Durch meine Hilfsbereitschaft bekomme ich auch viel zurück.« Durch die soziale Einbindung hatte er nie das Gefühl, ein Outcast zu sein, sondern immer: Mitten im Leben zu stehen, als radikaler Linker.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.