Ausfahrt in der Staatskarosse
Honeckers Dienstwagen hatte zur Wende nur 11 000 Kilometer auf dem Tacho - doch allmählich werden es mehr
Die letzte große Ausfahrt war eine Reise in Zeitgeschichte. Zwanzig Liebhaber alter DDR-Karossen strömten Ende September aus allen Teilen des Landes auf den Weg nach Prag. Ihr Ziel: die bundesdeutsche Botschaft, von dessen Balkon aus vor 25 Jahren der frühere Bonner Außenminister Hans-Dietrich Genscher die Ausreise der dorthin geflüchteten Ostdeutschen in die Bundesrepublik ausrief. Im Tross fuhr auch Gerrit Crummenerl mit. Für den gelernten Autoschlosser aus Brandis bei Leipzig eine Ehrensache. Wie kein Zweiter ist er mit Fahrzeugen aus der DDR vertraut. Der Sachse sammelt alles, was bis 1989 zwischen Plauen und Stralsund verkehrte. Trabant 601, Škoda S 100 oder Lada 2101 - es gibt nur wenige Serienmodelle, die sich der 42-Jährige nicht beschafft hat. »Rund einhundert Ostautos befinden sich zurzeit in meiner Sammlung«, erklärt er stolz.
Angefangen hat alles mit einem dunkelroten Wartburg, Baujahr 1968, »taschentuchgepflegt«, wie er sagt. Den erbte Crummenerl 1994 von seinem Großvater. »Der Wagen befand sich in einem Topzustand. Daher gab ihn mir meine Oma auch nur unter der Bedingung, weiterhin gut auf ihn aufzupassen«, erinnert sich der Sammler. Zwar hegte und pflegte Crummenerl das Familienerbstück wie seinen Augapfel, doch an einen nahezu kompletten DDR-Fuhrpark dachte er da noch nicht.
Da bekanntlich alles rostet, was rastet, beteiligte sich Crummenerl mit seinem Wartburg aber regelmäßig an Oldtimertouren. So auch auf einer der beliebten »Sternfahrten« von Mercedes im Jahr 2000 in Berlin. Dabei stahl das Eisenacher Fabrikat überraschend den Sindelfinger Modellen die Show. »Viele Besucher hatten in der Broschüre meinen Wartburg gesehen und sind nur deshalb dorthin gekommen. Das Interesse an meinem Wagen war unglaublich.« Crummenerl muss noch heute schmunzeln, wenn er daran denkt.
Dieses Erlebnis entfachte sein Sammelfieber. Auch wurde ihm bewusst, welche Emotionen die Ostfahrzeuge bei den Menschen auslösen. »Es kommt nicht selten vor, dass gestandene Männer feuchte Augen bekommen, wenn sie auf meinem Hof ein Auto für eine Spritztour abholen.« Denn einen Teil seines Fuhrparks vermietet Crummenerl: »Der Anblick der Autos weckt bei meinen Kunden oft ganz spezielle Erinnerungen.« Selbst die Filmbranche klopft zuweilen an, so jüngst wegen des sechs Meter langen Volvo 760 GLE, den einst Egon Krenz fuhr. Er rollt nun am 4. November im ARD-Streifen »Bornholmer Straße« über die Bildschirme.
Neben den gewöhnlichen DDR-Verkaufsschlagern liegt Crummenerls Augenmerk auf Fahrzeugen mit einer bewegten Vergangenheit. Ob Minister, Bankchef oder Schauspieler, die Reichen und Mächtigen der DDR waren sich bei der Fahrzeugwahl überwiegend einig: Sie bevorzugten Gefährte aus westlicher Produktion. Insbesondere Volvo stand hoch im Kurs.
Das außergewöhnlichste Stück seiner Sammlung stammt allerdings aus Frankreich: ein Citroën CX 25 Prestige extra lang. »Das war die letzte Staatskarosse Erich Honeckers«, erklärt Crummenerl die Vita seines Prunkstücks. »Sechs dieser Fahrzeuge kaufte die DDR-Regierung. Mein Wagen ist sogar einer von nur zwei gebauten Sondermodellen.« So wurde der französische Luxuswagen im Auftrag der DDR-Regierung von der schwedischen Spezialfirma Nilsson auf stattliche 5,50 Meter verlängert. In den Besitz des legendären Fahrzeugs kam Crummenerl 2005 bei einer Versteigerung in Berlin. Und der Zustand sei gut, erzählt er: »Gerade einmal 11 000 Kilometer hatte der Wagen runter, als ich ihn übernommen habe. Zugelassen ist er übrigens weiter auf die DDR.«
Für Ausfahrten klemmt Crummenerl daher stets Kurzzeitkennzeichen über die Originalnummernschilder. Doch aus dem Verkehr gezogen wird er mit dem Wagen eher selten. »Genau einmal wurde ich mit dem Citroën aber geblitzt«, verrät er. »Ironischerweise auf einer Oldtimertour nach Wandlitz.«
Auch Otto Normalverbraucher hatten in der DDR zumindest theoretisch die Chance auf ein besonderes Modell. »Da gab es zum Beispiel den ›Ostgolf‹. 10 000 Stück lieferte Volkswagen davon. Trotz magerer Ausstattung lag der Preis deutlich über dem des Westmodells.« Außerdem gab es den Mazda 323. »Er sollte zur Internationalisierung des Straßenbilds in Berlin beitragen«, erzählt der Autoexperte beim Rundgang durch eine große, unscheinbare Industriehalle, in der seine Sammlung derzeit untergebracht ist.
Obwohl er fahrzeugtechnisch inzwischen nahezu alles besitzt, was das Sammlerherz begehrt, hat Crummenerl noch einen Traum. »Ein kleines Museum, in dem ich meine Schätze ansprechend präsentieren könnte, wäre eine schöne Sache. Es müsste ein Gesamtpaket aus Ausstellungsräumen, Gastronomie und kleiner Werkstatt sein.« Der Sachse kommt ins Schwärmen, wenn er davon spricht.
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