Kein Filmriss in Wolfen
Die Marke ORWO wird 50 Jahre alt und lebt weiter, wenn auch eher im Verborgenen
Das Halbfinale der Fußball-WM zwischen Deutschland und Italien, das am 17. Juni 1970 im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt ausgetragen wurde, schrieb Geschichte. Die Partie, die Italien in der Verlängerung mit 4:3 gewann, gilt als »Partita del secolo«, als Jahrhundertspiel. Viele Fans erinnern sich noch an die Torschützen und einen turbulenten Spielverlauf. In der ostdeutschen Kleinstadt Wolfen erinnert man sich an ein anderes Detail. Wann immer die Kamera zur Mittellinie schwenkte, war auf der Bande ein aus vier Buchstaben bestehendes Logo zu sehen: ORWO - das Kürzel für »Original Wolfen«.
Sechs Jahre zuvor erst war das Warenzeichen eingeführt worden und hatte eine andere Bezeichnung aus vier Buchstaben teilweise ersetzt: Agfa. Das gleichnamige Unternehmen hatte Filmgeschichte geschrieben, indem es 1936 den ersten gebrauchsfähigen Farbfilm entwickelte - und zwar im Werk Wolfen. Zunächst blieb dieses auch nach dem II. Weltkrieg und der Gründung von BRD und DDR die wichtigste Agfa-Niederlassung. Allerdings entstand in Leverkusen ein neuer Standort. Aus Wolfen gelangten zunehmend nur noch weniger lukrative Produkte auf den westeuropäischen Markt. Im Jahr 1964 entschied die DDR-Regierung, ein eigenes Markenzeichen einzuführen, unter dem sämtliche »Materialien zur Informationsaufzeichnung« fortan vertrieben wurden. Es war die Marke ORWO.
Zur Markteinführung wurde geklotzt, nicht gekleckert. Es wurden nicht nur neue Schachteln für die Filme gedruckt und Handzettel in zahlreiche Sprachen übersetzt. Auch Auslandsvertretungen gab es, etwa in Indien. In Metropolen wie dem ägyptischen Kairo leuchteten die ORWO-Farben Blau, Weiß, Gelb und Rot an eigenen Läden. 40 Millionen D-Mark hat die Markteinführung nach Schätzung von Experten gekostet - eine der größten derartigen Kampagnen in der DDR. Die Investition hat sich wohl gelohnt: ORWO zählte weltweit stets zu den bekanntesten DDR-Marken.
Der Stern von ORWO sank mit dem Ende des Landes. Im Westen hatte sich statt des einst in Wolfen erfundenen Agfa-Verfahrens bei Farbfilmen inzwischen eine andere Technologie durchgesetzt. Die Umstellung gelang dem Filmkombinat Wolfen mit seinen zuletzt 15 000 Beschäftigten nicht mehr; 1994 kam das Aus. Zwei Versuche der Wiederbelebung scheiterten danach.
Und doch lebt die Marke weiter. Das beweist eine stilisierte Filmrolle mit dem ORWO-Signet, die im Gewerbegebiet von Bitterfeld-Wolfen an der bunten Fassade eines mehrstöckigen Produktionsgebäudes prangt. Hier hat das Unternehmen ORWONet GmbH seinen Sitz. In den Werkhallen werden Hunderte Millionen Fotos pro Jahr entwickelt, Fotobücher gebunden, Tassen und Puzzles bedruckt. 2013 lag der Umsatz bei 44,6 Millionen Euro, elfmal so viel wie beim Start 2004. Damit gilt ORWONet, das rund 300 Mitarbeiter und 15 Lehrlinge beschäftigt, derzeit als Nummer zwei auf dem deutschen Markt.
Die Kunden freilich bekommen von der Marke ORWONet, die in ihren beiden Bestandteilen gewissermaßen den Übergang von der analogen in die digitale Ära der Fotografie symbolisiert, wenig mit. Auf den Fototaschen, die in Wolfen mit den Zeugnissen von Familienfeiern und Urlaubsreisen bestückt werden, dominiert in der Regel das Logo der Hausmarke Pixelnet, oft auch das des Ende 2009 von dem Ost-Unternehmen übernommenen Traditionsanbieters Foto-Quelle - oder aber der Name der großen Drogerieketten, für die das Unternehmen aus Bitterfeld-Wolfen als Dienstleister arbeitet. Die Bezeichnung ORWONet taucht nur im Kleingedruckten auf. Im Westen, sagt Geschäftsführer Gerhard Köhler, sei die Marke nur Fachleuten ein Begriff, und auch im Osten verbinden Jüngere damit immer weniger.
Dennoch will Köhler an der Marke festhalten, deren 50-jähriges Jubiläum gestern sogar mit einem Festakt und einem Grußwort von Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) gefeiert wurde. Köhler versteht den Namen schließlich als Reverenz an eine große Industrietradition im Süden von Sachsen-Anhalt. »Es ist ein Name, der bei den Menschen in der Region starke Assoziationen und Erinnerungen wachruft«, sagt er. Vermutlich stärkere als das »Jahrhundertspiel« von 1970, dem schließlich seither noch viele ähnlich spektakuläre Fußballpartien folgten.
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