Wo sind die 43 Studenten?
In Mexiko fordern Zehntausende Gerechtigkeit für die verschleppten Lehramtskandidaten
Wahrscheinlich sind die Studenten tot, ermordet. Es ist inzwischen acht Wochen her: Kommunale Polizisten und Mitglieder des Drogenkartells Guerreros Unidos (Vereinigte Krieger) verschleppten am Abend des 26. September in der mexikanischen Stadt Iguala 43 Studenten. Seitdem fehlt jede Spur von ihnen. Am 20. November, dem 104. Jahrestag der mexikanischen Revolution, demonstrierten wohl weit mehr als 100 000 Menschen in Mexiko-Stadt und forderten ein weiteres Mal wirkliche Aufklärung. Viele Menschen trugen schwarze oder dunkle Kleidung, um ihre Trauer ausdrücken. Erneut nahmen neben großen Kontingenten der Universitäten auch viele Oberstufenschüler öffentlicher und privater Lehranstalten teil. Die politische Forderung »Lebend haben sie sie genommen, lebend wollen wir sie wieder«, wird zunehmend von Losungen gegen die Regierung begleitet. Auf vielen Plakaten wurde der Rücktritt von Präsident Peña Nieto verlangt.
Die Demonstrationszüge vereinten sich wie bei den vorherigen globalen Aktionstagen für die verschwundenen Studenten der pädagogischen Landhochschule von Ayotzinapa auf dem Zocalo, dem zentralen Platz vor dem Nationalpalast. Die ursprünglich dort für den 20. November vorgesehene Militärparade hatte die Regierung erst am Mittwoch offiziell abgesagt. Auf der relativ kurzen Schlusskundgebung sprachen mehrere Eltern der 43 Studenten. Sie drückten aus, sich vom Staat »betrogen« zu fühlen. Dieser spiele mit ihrem Schmerz. Sie versicherten, nicht aufzugeben, bis ihre Kinder gefunden seien.
Die Proteste schwellen in vielen Bundesstaaten an. Das Verschwindenlassen der Studenten von Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero hat offenbar den Nerv der Gesellschaft getroffen. Die Kommilitonen der 43 Studenten hatten in den vergangenen Tagen in drei Karawanen viele Bundesstaaten Mexikos besucht. Ayotzinapa steht stellvertretend für die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, für die der Staat durch aktives Handeln oder Unterlassen in den vergangenen Jahren verantwortlich oder mitverantwortlich gemacht wird. Staat und Regierung befinden sich in einer tiefen Legitimationskrise. Vor einer Woche drohte Präsident Enrique Peña Nieto indirekt mit dem Einsatz der öffentlichen Sicherheitskräfte gegen »Vandalismus« und »Gewaltakte«, falls »die Ordnung« anders nicht wieder hergestellt werden könne. Das machte die Wut vieler Menschen heftiger. Denn der Präsident, so ein weit verbreiteter Eindruck, ist der Ernsthaftigkeit der Lage in keiner Weise gewachsen. Zwar macht sich der angestaute Zorn vor allem in Guerrero unter anderem im Anzünden öffentlicher Gebäude Luft. Doch mehrten sich besonders in Mexiko-Stadt in den vergangenen Tagen Hinweise, dass sich unter vermummten Gruppen eingeschleuste Provokateure befinden.
Die Regierung ist in der Defensive. Die am 7. November von der Bundesgeneralstaatsanwaltschaft gegebene offizielle Darstellung der angeblichen Hinrichtung und anschließenden Verbrennung der Studenten noch in der Nacht auf den 27. September wird in ihren Details immer mehr hinterfragt. Weitere wichtige Ermittlungsergebnisse hat es seitdem nicht mehr gegeben. Andererseits sind im Rahmen der Suche allein im Umkreis der Stadt Iguala mehr als zwei Dutzend Massengräber gefunden worden. Wenn in keinem von ihnen die Studenten liegen, wer dann?
Einige Analysten befürchten, der Präsident könne in einem repressiven Vorgehen gegen die Proteste die Flucht nach vorn sehen. In der Vergangenheit, so die Politologin Soledad Loeza, hätten die Politiker auf die Angst der Gesellschaft vor Instabilität und Gewalt zählen können. Doch diese Angst scheine »angesichts der Straffreiheit und Unverantwortlichkeit der politischen Akteure erschöpft«. Möglicherweise muss sich Peña Nieto ein neues Volk wählen.
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