»Verhungern hätten sie ja zu Hause auch können«
30 Flüchtlinge, Polizeihundertschaften und zwei Studenten in München
Sie haben die letzte Nacht am Sendlinger Tor verbracht, wo die Münchner Polizei einen Flüchtlingsprotest beendete. Was haben Sie erlebt?
Alexandra Morath: Alexandra Morath: Wir haben am Mittwochabend gegen acht Uhr eine SMS bekommen, dass sich ein großes Polizeiaufgebot versammle und der Protest wahrscheinlich geräumt werde. Kurz darauf war der komplette Platz auch schon von der Polizei umstellt. Es kam keiner mehr rein oder raus und wir standen in der Mitte. Es war schon vorher klar, dass jene Flüchtlinge, die mit Abschiebung bedroht worden sind, von Unterstützern in Sicherheit gebracht werden sollten. Die übrigen sollten auf Bäume klettern. So geschah es dann auch.
Die 30 Flüchtlinge befanden sich seit Samstag im Hungerstreik. Seit Mittwoch tranken sie auch nichts mehr. Laut der Stadt bestand »Gefahr für Leib und Leben«, deshalb habe man räumen müssen.
Morath: Von Beginn an war lediglich ein freiwilliger Rettungssanitäter vor Ort. Es gab keinen Arzt, die Stadt hat niemanden gestellt. Während der Räumung hatte ich einen Geflüchteten unterm Arm. Als er neben mir zusammenbrach und nicht mehr ansprechbar war, hat die Polizei mich einfach weggezogen. Die Polizei hat sich nicht um ihn gekümmert.
Ron Stoklas: Medizinische Versorgung wurde geleistet, als die Flüchtlinge am Morgen von den Bäumen heruntergekommen sind. Am Dienstag kamen ja schon drei Flüchtlinge ins Krankenhaus.
Einige der Flüchtlinge liegen nun im Krankenhaus. Wofür haben sie die Strapazen auf sich genommen?
Morath: Die Geflüchteten wollen arbeiten dürfen, in die Gesellschaft integriert werden. Sie wünschen sich, dass die Lagerpflicht aufgehoben wird und jene, die Freunde oder Familie haben, auch dort unterkommen können. Die medizinische Versorgung soll verbessert werden. Bisher müssen Flüchtlinge erst aufs Amt gehen, um sich eine Überweisung zum Arzt zu holen. Sie wollen einfach dieselben Rechte haben wie jeder andere in diesem Land auch.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann nennt die Forderungen »unerfüllbar«.
Morath: Ja, das ist seine Meinung. Je weiter man die Türen öffnet, desto schwerer wird man die Menschen wieder los. Es ist bequemer, sie einfach abzuschieben.
Ist das auch die Stimmung auf der Straße, wie haben die Menschen gestern Abend reagiert?
Stoklas: Viele haben sich gestört gefühlt, dass sie den Platz nicht überqueren konnten. Aber wenn man ihnen erklärt hat, was die Anliegen der Flüchtlinge sind, zeigten auch viele Leute Verständnis.
Morath: Ich habe auch Sprüche gehört wie: »Verhungern hätten sie ja zu Hause auch können.« Zum Teil haben Leute aber auch spontan unser Sprüche mitgerufen.
Gleichzeit ziehen in Bayern wie überall in Deutschland immer öfter Rechte und normale Bürger gegen Flüchtlinge auf die Straße.
Morath: Ich war vor Kurzem bei einer Veranstaltung der »Bayerischen Initiative für Ausländerstopp«. Dort stand ein Mann rund 100 Gegendemonstranten entgegen. Dennoch herrscht immer noch viel Unverständnis über die Zusammenhänge von Flucht und beispielsweise Waffenhandel oder Dublin II. Und plötzlich sitzen diese Menschen vor der eigenen Nase. Viele übernehmen blind Parolen, wie die, dass Geflüchtete nicht arbeiten wollen. Aber es gibt auch die vielen Freiwilligen, die Kleidung in Unterkünfte bringen, Deutschkurse anbieten, die Menschen willkommen heißen. Wie in den letzten Wochen, als die Bayernkaserne völlig überfüllt war.
Die Flüchtlinge vom Sendlinger Tor sollen nun zunächst in Pensionen und Hotels untergebracht werden. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter will mit ihnen sprechen. Ist das nicht ein kleiner Erfolg des Protests?
Morath: Reiter hat am Montag noch gesagt, dass er in der Sache gar nichts zu sagen hat. Das Gesprächsangebot war wohl eher eine Maßnahme, um den Protest unter der Hand zu beenden.
Stoklas: Man muss sehen, was jetzt passiert. Vor Kurzem war noch die Rede davon, dass man sich nicht erpressen lassen werde. Traurigerweise bleibt nun nicht mehr, als abzuwarten.
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