Wo das Gute wohnt
Mathias Wedel: Warum wir den Westen brauchen
Warum wir den Westen brauchen? Weil sonst die Zugvögel nicht wüssten, wo’s nach Süden geht. Auch wird der Westen gebraucht, weil der für den Kapitalismus der nördlichen Halbkugel steht, der sich hinter allerlei Firlefanz tarnt, der »westliche Werte« heißt, obwohl es »nördliche Werte« heißen müsste. Ohne Westen wüsste die Menschheit nicht, wo das Gute wohnt und wo das Böse lauert. Ohne Westen keine Moral in der Welt, keine Charity-Events und kein demokratisches Ehrenamt! Ohne Westen wäre alles - Säkularisierung, Aufklärung, Menschenrechte - nicht geschehen oder ganz und gar umsonst gewesen.
Warum speziell »wir« Ostdeutschen den Westen brauchen? Nun, ohne Westen hätten die Ostler nichts zu fressen - nur die Brandenburger auf sandigem Lande könnten überleben, weil sie sich ihre Kohlenhydrate selbst anbauen. Ohne Westen könnten wir uns nicht kleiden und müssten unsere Scham notdürftig mit den Dederonfetzen bedecken, die wir über die Revolution gerettet haben. Wir würden die Geschlechtsverkehre und die damit einhergehende Fortpflanzung einstellen, weil erst essen muss, wer pimpern will, und zweitens sowieso alles keinen Sinn hätte. In den Schulen wüssten die Lehrer nicht, was sie die Kinder lehren dürfen, die Sender blieben stumm und dunkel und zu lesen hätten die Ostler nur ein, zwei Zeitungen (und ein satirisches Magazin), die aber auch nicht wüssten, was sie schreiben sollten. Ein Internet hätten wir ohne Westen auch nicht, höchstens ein Intranet, eine Fünfländeranstalt, mit einem Knotenpunkt in der Staatskanzlei von Stani Tillich. Denn vor allem: Ohne Westen wüssten wir nicht, was und woran wir glauben sollten nach all dem Hin und Her, und würden uns womöglich auf unsere alten Tage einen lieben Gott imaginieren!
Unser Leben wäre leer und nur dazu bestimmt, mit dem Tode zu enden. Wir wären nicht mehr die guten, etwas hässlichen (verglichen mit den Westdeutschen) Leutchen, die gelitten haben, fast immer im Gefängnis saßen (und jetzt, von sich selbst gerührt, den »Fidelio« aus dem Knastfenster in Cottbus singen dürfen), die gegen diverse Mauern rannten, ungeheuer gewitzt und todesmutig mit lustigen Geräten aus dem Dunstkreis des Staates verschwanden oder sich Erdlöcher in die Freiheit gruben. Wir wären nicht das weltweit geknuddelte Völkchen, das tapfer vierzig Jahre Braunkohle und Weißkohl überstanden hat. Und niemand würde uns Ostdeutschen Lampen in einer langen Reihe auf die Straße stellen, vor denen wir bei Hereinbrechen der Dämmerung hochhüpfen, in die Hände klatschen und für die Kameras des Westfernsehens »Gänsehaut!« rufen oder - sprachlich schon etwas gewesteter - »Gänsehautfeeling!« Wir Ostler sind alle ein bisschen Ute Freudenberg - erst sehr unterdrückt und unglücklich (trotz Jugendliebe), dann irgendwie (und sei’s in unseren Träumen) rübergemacht, jetzt aber wahnsinnig glücklich. Und doof.
Dazu nämlich brauchten »wir« den Westen - dass wir ohne ihn nichts sind und nichts können. Wenn der Westen den Opel woanders zusammenschrauben lässt, sind wir erledigt. Dann könnten wir nicht mal mehr den Kitt aus den Fenstern fressen, weil es in diesen hochwertigen Thermoelementen keinen Kitt mehr gibt. Unser Kali baut der Westen ab (folgerichtig hielt die ARD ihre Live-Feierlichkeiten zu 25 Jahre Mauerfall auf der »Brücke der Einheit« über der Werra in Philippsthal ab - von dort aus wurden in den neunziger Jahren die Kumpel von Bischofferode in Salzlauge eingelegt, aus der sie bis heute nicht wieder aufgetaucht sind).
Die »Ostprodukte« kommen aus dem Westen - dort sitzen die Vorstände und Aufsichtsräte. Wenn an einem Sack Kartoffeln ein Zettel hängt, der deren Herkunft »aus der Region« bezeugt, darf man lachen: Der Boden, auf dem sie wuchsen, gehört einem Hedgefonds mit Geschäftsadresse auf den Balearen. Wenn in der Schorfheide ein Hirsch erlegt wird, ist es ein Westhirsch. Genüsslich listete die »Bild«-Zeitung in ihrer Festausgabe etwa zehn Wörter auf, die den Ostdeutschen geblieben sind. Das sind neun zu viel! Eins reicht doch: Danke!
Im Sommer bin ich 600 Kilometer durch den Westen geradelt, das Wetter war optimal, die Fahrradwege waren wie geleckt, die Beschilderung dem Fremden zugewandt. Wer je Bad Kissingen erlebt hat, der kann eigentlich seine Kindheit und Jugend in Sachsen-Anhalt nicht verfluchen (wohl aber die in Borna-Espenhain). Spätestens zur 30. Mauerfete ist der Osten ein einziges Bad Kissingen, wie Görlitz heute schon - Ruhesitz für pensionierte Westbeamte. In Ostdeutschland werden seit Jahrzehnten nur noch Westdeutsche geboren. Doch noch gibt es sie, die Ossis mit den »gebrochenen Biografien«, den lächerlichen Kontoständen und schlechten Zähnen. Man darf nur den Zeitpunkt nicht verpassen, von dem an einige Exemplare von ihnen ausgestopft werden müssen.
Mathias Wedel war »nd«-Kolumnist und ist Chefredakteur des ostdeutschen Nachrichtenmagazins »Eulenspiegel«.
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