Betteln unter Palmen
Zum Jahresende bessern arme Familien in bolivianischen Großstädten ihr Einkommen auf
Mit dem Regen, der das tropische Santa Cruz de la Sierra seit Silvester in frische Kühle versetzt, ist Ruhe eingekehrt in die hellen Torbögen rund um die Plaza Central. Das Gitarren-geschrammel der letzten Wochen, das bunt gekleidete Bettlerkinder in den Einkaufsstraßen der quirligen Palmenstadt zum Besten gaben, ist verstummt. Es gehört für die Cruceños zum Jahresabschluss wie die Geschenkpakete unter der Plastiktanne.
Wie kaum zuvor brummte in der bolivianischen Millionenstadt 2014 das Weihnachts- und Neujahrsgeschäft. Der vom Export der nationalisierten Gasreserven getriebene Aufschwung der letzten Jahre hat der rasant wachsenden Metropole im Amazonas-Tiefland nicht nur neue Schulen, Parks und Bibliotheken, sondern auch eine Handvoll Hochhäuser, voll klimatisierte Einkaufsmalls und verglaste Autohäuser mit Luxuskarossen aus Europa beschert. Kauffreudig, als gäbe es kein Morgen, shoppt eine neue, gut betuchte Mittelschicht der seit eh und je bestens gestellten Oberschicht hinterher.
Dass da die ein oder andere Bolivianomünze in den Bettlerhut der Ärmsten abfällt, hat sich in den entlegensten Nestern des bolivianischen Andenhochlandes herumgesprochen. Zwar haben Millionen Bolivianer Hunger und Misere seit der Nationalisierung der Bodenschätze im Mai 2006 unter Präsident Evo Morales hinter sich gelassen. Doch besiegt ist die Armut, langatmiges Erbe jahrhundertelanger Kolonisation, Ausbeutung und Kastengesellschaft, darum noch lange nicht. Und so pilgern pünktlich zum Jahresende Hunderte verarmte Bauernfamilien in die Großstädte der Zehn-Millionen-Einwohnernation, nach Santa Cruz und in den Regierungssitz La Paz im Norden. Durch Almosen muss hinzu verdient werden, was Viehzucht und Ackerbau auf dem Land nicht bieten können: Das pure Überleben.
Meistens kommen die Frauen, ihre Kinder an der Hand oder auf den Rücken gewickelt. »Ich habe acht Kinder, die staatlichen Sozialprogramme reichen gerade für das Nötigste. Darum komme ich nach Santa Cruz, die Menschen geben uns Geld oder Geschenke«, erklärt Barbara, Mitte 30, den Jüngsten im Arm. Die Bäuerin machte sich mit fünf Kindern auf die Zwei-Tage-Reise, hofft auf die Großzügigkeit der Passanten. Eine Dürre hat die gesamte Ernte der Saison zerstört, nicht zum ersten Mal macht sich der Klimawandel bemerkbar. Auf Straßen, Plätzen und vor Kirchen bitten Barbara und ihre Kinder um Hilfe. Die Nacht verbringen sie unter freiem Himmel. Kein leichtes Los, gerade jetzt weht ein kalter Südwind, ungewöhnlich lange für diese Jahreszeit. Auch der Regen ist sonst nicht so stark. Täglich 20 bis 30 Bolivianos (zwei bis drei Euro) wollen sie erbetteln. Davon können sie essen und sogar etwas sparen. Andere wollen sich neues Saatgut kaufen. So wie Eloy, ein fast 70-Jähriger Bauer, der mit Stock, Basecap und Proviantsack auf eigene Faust an der Plaza bettelt. Nicht selten werden die Bauern aus dem Hochland als faul und dreckig beschimpft. Was mancher Bewohner von Santa Cruz vergisst: Das im Andenhochland gelegene Potosí war über Jahrhunderte die wirtschaftliche Lokomotive, die Reichtum im Land möglich machte. Nach den Booms von Silber, Zink und Kupfer - die »Silberstadt« überflügelte im 16. Jahrhundert sogar Paris und London - wurde die steinig-karge Region zum Armenhaus Südamerikas. Hunderttausende starben in den Bergwerken.
»Wir rechnen jedes Jahr mit 450 bis 500 Potosinos, die wir in unserer Herberge am Busbahnhof unterbringen«, berichtet Martín Rengel vom städtischen Sozialamt in La Paz einer hiesigen Tageszeitung. Einen Monat lang kümmern sich Ärzte und Psychologen vor allem um die vielen Kinder, die oft nicht einmal Spanisch sprechen. Die Städter tragen in Benefiz-Sammelaktionen Spielzeug für sie zusammen. Den Erwachsenen soll mit Alphabetisierungs-Schnellkursen geholfen werden. Anwohner bringen ihnen heiße Schokolade und Brot.
Längst nicht allen Abgehängten wird so viel Nächstenliebe zuteil. Die Morgenblätter von Santa Cruz vermelden ein Dutzend inhaftierte Habenichtse. »Diese Personen marodieren auf Hauptstraßen und an Ampeln herum, die Bevölkerung hat Angst, sie konsumieren Drogen und Alkohol, und wir haben Marihuana, Schnüffel-Kleber, Handys und Stichwaffen sichergestellt«, informiert der örtliche Polizeisprecher, und verspricht die zeitweilige Unterbringung der »Störenfriede« in geschlossenen Anstalten »damit die Menschen ihre Einkäufe in Ruhe erledigen können«.
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