Nothilfe auf engstem Raum
Im griechischen Gesundheitswesen hinterlässt die Sparpolitik tiefe Spuren
Das kleine Wartezimmer ist kurz nach Beginn der Sprechstunde gut gefüllt. Ein Pärchen mit einem Säugling wartet auf die Kinderärztin, ein Diabetespatient auf den Pathologen, ein langhaariger, in Leder gekleideter Mittvierziger hat einen Termin beim Psychiater und ein älterer Herr fragt, ob er seine Frau herbringen könnte, der es nicht gut ginge. Sie alle können sich den Besuch in einem »normalen« Ärztehaus nicht leisten. Deswegen kommen sie ins »Selbstverwaltete Soziale Ärztezentrum - Apotheke« in Nea Filadelfia. Es bietet, im Norden Athens liegend, täglich zwischen 17 und 20 Uhr manchmal bis zu 30 Patienten eine medizinische Grundversorgung.
»Das griechische Gesundheitswesen ist völlig ruiniert worden«, konstatiert Agnie, »im Zuge der Krise wurden ganze Krankenhäuser geschlossen und Tausende Ärzte entlassen.« Die resolute Frau mit den grauschwarzen langen Haaren ist eine der mehr als 50 Freiwilligen, die das Ärztezentrum aufgebaut haben und betreiben. »Es ist sicher nicht unser Ziel, die Aufgaben des Staates zu erfüllen«, sagt sie, »wir kämpfen natürlich dafür, dass in Griechenland wieder ein funktionierendes Gesundheitssystem aufgebaut wird.« Aber bis dahin müsse man eben »Schadensbegrenzung leisten«.
Etwa ein Viertel der in Griechenland lebenden Menschen haben keine Sozialversicherung; sei es, weil sie nach über einem Jahr Arbeitslosigkeit aus allen sozialen Netzen herausfallen, sei es, weil sie als Selbstständige oder Kleinunternehmer der Krankenkasse Beiträge schulden und diese im Gegenzug jede Leistung verweigern. Andere können sich den Eigenbeitrag für die notwendigen Medikamente oder den für jeden Arztbesuch erhobenen Obolus nicht leisten. Im sozialen Zentrum sind sie willkommen, weggeschickt wird niemand und nach Papieren fragt hier keiner.
Auf engstem Raum wird eine Menge geleistet. Heute teilen sich ein Pathologe, eine Kinderärztin, ein Psychologe und ein Psychiater die beiden Behandlungsräume. Wartezimmer, Rezeption und eine kleine Teeküche bilden einen gemeinsamen Bereich, der durch die Türen zu den Behandlungsräumen und dem WC vervollständigt wird. In einem niedrigen Raum im Hochparterre ist die Apotheke untergebracht.
Die Räumlichkeiten wurden dem Ärztezentrum unentgeltlich von der Gemeinde zur Verfügung gestellt, die auch die Rechnungen für Wasser und Strom bezahlt. Unter dem jetzigen Bürgermeister von SYRIZA ist dies eine Selbstverständlichkeit, schließlich hatte sich die Linkspartei im Vorfeld der Kommunalwahlen im vergangenen Mai die Unterstützung solcher Einrichtungen auf die Fahnen geschrieben. Doch den Schlüssel zum Gebäude hatten die Betreiber noch von der Vorgängerin bekommen; allerdings erst nach monatelangen Verhandlungen und gehörigem, durch Öffentlichkeitsarbeit erzeugten Druck.
Ausgebaut wurde dann alles in Eigenarbeit. »Auch jetzt werden alle Medikamente, jeder Cent für die laufenden Kosten durch Spenden aufgebracht«, erzählt Sofia, die von Anfang an dabei war. »Zu sehen, dass Leute nicht einmal mehr zum Arzt können, hat mich sensibilisiert, ich wollte etwas tun«, erläutert die 56-Jährige, die ihr Schmuckgeschäft vor mehr als zwei Jahren schließen musste und seitdem arbeitslos ist. Deswegen sitzt sie an der Rezeption und kümmert sich, zusammen mit ebenfalls unentgeltlich helfenden Fachkräften aus der Apothekergilde, um die Medikamente. »Alles Spenden«, sagt sie und zeigt auf die gut gefüllten Regale. Die Apotheken in der Gegend bitten ihre Kunden, nicht mehr benötigte Medikamente für die Sozialklinik bei ihnen abzugeben. Überall wurden Flugblätter verteilt, um die Klinik bekannt zu machen.
Das Zentrum ist vollständig unabhängig und selbstverwaltet. Alle Entscheidungen trifft die jeden Dienstag tagende Versammlung. An ihr nehmen nicht nur die Ärzte und die anderen Freiwilligen teil, sondern bereits auch so mancher Patient, der über die Konsultation ärztlichen Beistands selbst zum Helfer wurde. Das ist auch so gewollt: »Die Leute sollen aktiv werden und mitmachen, denn wenn wir nicht alle zusammen kämpfen, wird sich nie etwas ändern.«
Die Worte von Sofia würden sicherlich alle hier unterschreiben. Christos, der junge Pathologe genauso wie Alkisti, die Kinderärztin in Ausbildung oder Giorgos, hauptberuflich Psychologe in einer privaten Klinik. Sie sind drei der insgesamt 37 Ärzte, die hier im Wechsel einen guten Teil ihrer knappen Freizeit verbringen. Manche, wie Giorgos und Alkisti, sehen dies vor allem als Beitrag für den Kampf um ein menschenwürdiges Gesundheitssystem für alle. Anderen wie Christos gefiel die Idee, »Menschen zu helfen, die aus allen sozialen Netzen gefallen sind«. Und Natasa, die junge Bankangestellte, die heute ihren ersten Tag an der Rezeption verbringt, wurde davon angezogen, »dass Leute, die sich gar nicht kannten, gemeinsam für eine gute Sache arbeiten«.
Über 430 Besuche von insgesamt 177 Patienten zählt das Ärztezentrum seit Eröffnung im vergangenen September. Die meisten von ihnen (61 Prozent) sind Arbeitslose, 10 Prozent Rentner, jeweils 5 Prozent Kinder und Hausfrauen. Fast 20 Prozent können sich Arztbesuch und Medikamente trotz Beschäftigung nicht leisten. Fast die Hälfte der Patienten (47 Prozent) ist zwischen 41 und 60 Jahre alt.
Einer von ihnen ist Kostas, dessen chronische Atembeschwerden hier behandelt werden. »Hier hat man mich sofort aufgenommen, sich gekümmert, keiner hat mich mit Vertröstungen abgespeist«, erklärt der seit drei Jahren arbeitslose Aluminiumarbeiter. »Und wenn mal ein Medikament für mich nicht da war, dann gab es das eben am nächsten Tag.« Solche Engpässe werden vom Zentrum in Zusammenarbeit mit den zahlreichen anderen sozialen Gesundheitszentrum in der griechischen Hauptstadt überwunden. In dem immer dichter werdenden Netz hilft man sich auch gegenseitig. Und auch über die in derartigen Einrichtungen mögliche Grundversorgung hinaus wurden bereits allerorts Kontakte geknüpft. So konnten private Diagnosezentren und Labore geworben werden, die für Patienten der sozialen Gesundheitszentren unentgeltlich diverse Untersuchungen übernehmen.
Besonders schockierend ist die große Anzahl der psychisch Kranken, die die Dienste der Zentren in Anspruch nehmen. Unter den Patienten in Nea Filadelfia sind sowohl durch die Krise als auch schon vorher Erkrankte. »Doch für alle gilt, dass ihr Zustand mit der Krise schlimmer geworden ist«, erläutert der Psychologe Giorgos. »Das betrifft ihre materielle Situation und ihre Schwierigkeiten genauso wie ihre Krankheit.«
Die Betreuung psychisch Kranker wird in Griechenland derzeit schrittweise vom Staat an Private ausgelagert. Alle psychiatrischen Abteilungen in öffentlichen Krankenhäusern und sämtliche staatliche psychiatrische Kliniken werden geschlossen. Das hat Auswirkungen nicht nur auf die Familien von Kranken, die beispielsweise den Aufenthalt in einer privaten Anstalt nicht bezahlen können. Giorgos berichtet von mehr als sechs Monaten Wartezeit für einen Termin beim Psychiater: »Und was ist, wenn jemand mit akuten Atembeschwerden ins Krankenhaus kommt und dort keine körperliche Ursache festgestellt werden kann? Weil der Patient vielleicht psychisch krank ist und einen Panikanfall hat? Dann weiß der Arzt nicht, wohin er ihn schicken kann.«
Die Sprechstunde im Ärztezentrum in Nea Filadelfia an diesem Tag nähert sich ihrem Ende. Zwei Patienten, denen die Teststreifen für den Zuckertest ausgegangen sind, müssen sich ein paar Tage gedulden, heute hat man keine auftreiben können. Der neun Monate alte kleine Patient von Alkisti dagegen hat nicht nur sein Antibiotikum gegen die Ohrenentzündung, sondern auch die nötige kleine Rundumuntersuchung bekommen. »Er war seit sieben Monaten zum ersten Mal beim Arzt, weil die Eltern kein Geld haben«, meint die Kinderärztin. »Das ist beileibe kein Einzelfall, obwohl die Kleinen in diesem Alter einmal im Monat untersucht werden sollten.«
Als die Tür geschlossen wird, ist wieder mehr als einem Dutzend Menschen geholfen worden, mit Leistungen, die in einem Land Europas eigentlich allen staatlicherseits zur Verfügung stehen sollten. Aber bis dahin ist es wohl noch ein weiter Weg. Zumindest in Griechenland.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.