Flucht aus Debalzewo
Der ukrainischen Zentralmacht droht weitere militärische Niederlage
In der Ostukraine konzentrieren sich zu Wochenbeginn die Kämpfe auf die Ortschaft Debalzewo. Die Separatisten drohen, hier eine 8000 bis 9000 Mann starke Gruppierung der ukrainischen Armee einzukreisen. Gelänge es ihnen, würde sich die Situation vom August vorigen Jahres bei Ilowaisk wiederholen. Jener Kessel zwang Poroschenko, in Minsk dem formell immer noch gültigen Waffenstillstand zuzustimmen.
Die jetzige »Nötigung zum Frieden« sei nicht in Lugansk und Donezk geplant worden, schreibt die Moskauer »Nesawissimaja Gaseta« in einem Kommentar. Moskau würde den derzeitigen Konflikt am liebsten nach dem Vorbild jenes in Transnistrien »einfrieren« Es habe mit dem Sieg der Separatisten nichts im Sinn, könne sie aber nicht ohne Gesichtsverlust fallen lassen.
Präsident Poroschenko nutzte die im September vereinbarte Feuerpause, um eine neue Offensive vorzubereiten. Die Separatisten kamen ihm aber zuvor und ergriffen die taktische Initiative. Bei einer Kundgebung in Kiew wurde am Wochenende Poroschenkos Rücktritt gefordert. Weder Falken noch Tauben scheinen ihn heute zu mögen.
Eine Niederlage der Ukrainer bei Debalzewo hätte verheerende moralische Wirkung. Pazifistische Stimmungen machen sich bei der Truppe breit. Generalstabssprecher Wladimir Talalai gab in der Obersten Rada »Probleme bei der vierten Welle der Mobilmachung« zu. Rekruten drückten sich vor der Einberufung und setzten sich ins Ausland ab.
Präsident Poroschenko verschärfte per Dekret die Vorschriften für die Ausreise von Männern im wehrfähigen Alter. Sein russischer Kollege Wladimir Putin zeigte dagegen volles Verständnis für junge Leute, »die am brudermörderischen Krieg« nicht teilnehmen wollen. Bisher mussten Ukrainer, die sich in Russland aufhalten, nach einem Monat zurückreisen. Nun ließ Putin die Frist auf drei Monate verlängern.
Leidtragende der Auseinandersetzungen bleiben wie immer die friedlichen Bürger. Die Kiewer Führung ordnete die Evakuierung aus Debalzewo an, das in Friedenszeiten rund 12 000 Einwohner zählte. Die Tageszeitung »Kommersant« brachte eine Reportage vom Hauptplatz der belagerten Kleinstadt. Dort gebe es kein unbeschädigtes Haus. Die Fenster seien mit Sperrholzplatten vernagelt. Vor einem Armeetankwagen werde nach Trinkwasser angestanden. Am Stadtrand warteten Ausreisewillige mit Gepäck auf Abholung.
Das zentrale russische Fernsehen bringt allabendlich Reportagen über Gräueltaten der Ukrainer in Gegenden mit vorwiegend russischer Bevölkerung. Die der Separatisten bleiben ausgeklammert, obwohl OSZE-Beobachter Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten melden.
Bei einer Umfrage des Meinungsforschungszentrums WZIOM sprachen viele Teilnehmer von einem Bürgerkrieg in der Ukraine, in den auch Russland einbezogen sei. 50 Prozent der Befragten halten einen Krieg zwischen Kiew und Moskau für möglich. Vor drei Monaten waren es noch 17 Prozent. 10 Prozent meinen, der Krieg sei bereits im Gange.
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