Revolution gescheitert
Zum »Safer Internet Day« ist das Netz unsicher denn je
Es gibt sie noch, die guten Nachrichten in Zeiten der Totalüberwachung: Anlässlich des »Safer Internet Days« verlost der Berufsverband der Datenschutzbeauftragten Webcam-Sticker. Toll: Aufkleber gegen die Totalüberwachung! Zynismus off.
Die Aktion ist Teil des europäischen »Aktionstags für mehr Sicherheit im Internet«. Ein Tag, der in etwa so absurd ist, als würde Pegida Vorträge zur Flüchtlingssolidarität organisieren; der Islamische Staat einen Aktionstag zum humanitären Umgang mit Gefangenen ausrufen.
Denn Initiator des »Safer Internet Day« ist die Europäische Union. Jene Institution, die es seit Jahren nicht zustande bringt, eine Verordnung zum Schutz der Daten ihrer Bürger zu verabschieden und diese stattdessen in den TTIP-Verhandlungen an Konzerne verhökert. Jene EU, deren Courage im Kampf gegen Überwachung ungefähr so groß ist wie die Beamer-Linse, mit der aus Angst vor politischen Konsequenzen lediglich das ruckelnde Ebenbild Edward Snowdens an die Videoleinwand im EU-Parlament projiziert wird.
Machen wir uns nichts vor: Wenn Edward Snowden der Datenschutz-Revolutionär war, dessen Enthüllungen die größte Überwachung der Menschheitsgeschichte hätten stoppen können, dann erleben wir gerade eine Konterrevolution, die die Panzer auf dem ägyptischen Tahrir-Platz aussehen lässt wie die Pixel-Geschütze in Minecraft.
Zur Erinnerung: Vom Suff-Selfie auf Facebook bis zu den vertraulichen Akten des US-Kongress landet so ziemlich alles, was ein Glasfaserkabel durchquert, auf den Servern von NSA oder GCHQ. Verdachtsunabhängig und ohne jede demokratische Kontrolle. Seit fast zwei Jahren geben uns NSA-Dokumente Einblick in die Realität einer Überwachungsdystopie, die wohl selbst Orwell als Verschwörungstheorie wirrer Endzeitfanatiker abgetan hätte.
»Ja, aber ...« raunt es mal hoffnungsvoll, mal selbstgefällig durch Kommentarspalten und über die Pappschilder ein paar weniger Datenschutz-Aktivisten, die zusammengenommen wohl nicht einmal die Zahl der Ordner einer Pegida-Demo erreichen. Nie zuvor sei die Sensibilität gegenüber Überwachung so groß gewesen? Bullshit!
Das einzige, was nie zuvor so groß war, ist die Geschwindigkeit, in der der »Überwachungsstaat« jenseits staatlicher Grenzen ausgebaut wird. 200 Millionen Verbindungsdaten schöpft der BND pro Tag ab , berichtete vergangene Woche »Die Zeit«. In den USA hat die NSA dank Obamas Geheimdienstreform Zugriff auf mehr Daten denn je. Und Reporter ohne Grenzen berichtet über ein »nie gekanntes Ausmaß staatlicher Verfolgung von Journalisten« im Vereinigten Königreich. Was durch die zunehmende Überwachung droht, ist mehr als die nächste Version der Facebook-AGBs. Sie zerstört ein Kulturgut. »Ich erkläre den weltweiten sozialen Raum (...) für unabhängig von der Tyrannei, die Ihr uns auferlegen wollt«, schrieb der US-Bürgerrechtler John Perry Barlow 1996 in seiner »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace« und versuchte damit den ideellen Grundstein für ein demokratisches, dezentrales, transparentes Internet zu legen. Das Gegenmodel gab der britische NSA-Klon GCHQ unter dem Label »Mastering the Internet« heraus. Das Internet als gigantischer Überwachungsapparat. Wir haben uns entschieden: Es sind nicht mehr »Gefahren im Netz«, die auf uns lauern. Das Netz ist die Gefahr.
Nirgends wird der Zynismus der gescheiterten Datenschutzrevolution so deutlich wie in dem Land, das einst die Führerschaft in Sachen NSA-Aufklärung übernehmen wollte: Das NoSpy-Abkommen? Gescheitert. Ermittlungen der Bundesstaatsanwaltschaft gegen die millionenfache Grundrechtsverletzung? Eingestellt. Der NSA-Untersuchungssausschus? Durch permanente Sabotage der Exekutive zur Bedeutungslosigkeit verdammt! Selbst Verschlüsselung soll laut Innenminister de Maizière in der schönen neuen Überwachungsrealität nur solange möglich sein, wie der Staat sie knacken kann. Die öffentliche Empörung: nahezu null. In diesem Sinn haben wir, die faulen Freunde eines demokratischen Internet, wohl auch nicht mehr verdient als kostenlose Aufkleber für die Webcam.
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