Einblick in ein System der Zwangsarbeit

Nepalesen, Inder und Bangladescher bauen in Katar für die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 - ein Besuch

  • Tom Mustroph, Mesaieed
  • Lesedauer: 7 Min.
Katar hat nach der weltweiten Entrüstung wegen der Verhältnisse auf WM-Baustellen ein paar Gesetze verschärft und Musterbaustellen eingerichtet. Die meisten Arbeitsmigranten haben davon nichts.

In Mesaieed, etwa 40 km südlich von Doha, liegt das Rohmaterial der Fußball-Weltmeisterschaft 2022. Riesige Dünen grauen gewaschenen Sands erheben sich am Rand der Wüste. Sie sind der Grundbestandteil des Betons, aus dem die Stadien gefertigt werden und auch die U-Bahn-Tunnel, durch die zwischen 500 000 und 800 000 WM-Zuschauer zu den Arenen fahren sollen. »Acht Millionen Tonnen Sand befinden sich hier«, sagt A., ein Ingenieur der Qatar Primary Materials Company (QPMC). Es spricht Stolz aus seiner Stimme. Extra für das WM-Infrastrukturprogramm vergrößerte QPMC seine Produktionskapazität.

Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Fahrer der Bagger und Lastwagen hat für QPMC allerdings nur geringe Priorität. »Sie haben ein paar neue Bestimmungen eingeführt. Die Arbeitszeit ist auf acht Stunden pro Tag begrenzt. Sie haben aber auch Überstunden bis hin zu zwölf, im Einzelfall sind bis 15 Stunden pro Tag erlaubt, wenn andernfalls das Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten würde. Sie sagen natürlich immer, dass sie in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen, wenn wir keine Überstunden machen. Von vier, fünf Überstunden pro Tag bezahlen sie den Arbeitern aber nur zwei«, erzählt A., der wegen der Turbulenzen des arabischen Frühlings seine Heimat verließ und in Katar anheuerte.

Seinen Namen und seine Nationalität will er aus Angst vor Repressionen nicht nennen. »Lieber nicht«, sagt der muskulöse Mann, der zudem beklagt, dass auch für ihn, einen Mann mit abgeschlossenem Studium, die üblichen, fronarbeitsähnlichen Zustände gelten. »Ich habe einen Vertrag von fünf Jahren. Ich komme da aber vorher nicht raus und kann auch nicht meinen Arbeitgeber wechseln«, klagt er.

Im Moloch »Industrial Area«

Was er erzählt, deckt sich mit Berichten der Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch sowie vom Gewerkschaftsdachverband ITUC. Arbeiter haben keine freie Arbeitsplatzwahl. Ihre Löhne werden oft spät und zum Teil unvollständig ausgezahlt. »Sie machen es so: Wenn dein Visum ausläuft und du nach Hause musst, zahlen sie dir einfach den Rest deines Lohns nicht«, erzählt Nabin, ein Bauarbeiter aus Nepal, in der Industrial Area von Doha. Das ist ein etwa acht mal acht Kilometer umfassendes Gebiet am Rande der Hauptstadt. Es wird in Ost-West-Ausrichtung von 52 Straßen durchschnitten, die noch immer nur Nummern tragen anstatt Namen. Warenhäuser, Industrieanlagen und Wohnheime sind in dieser schachbrettförmigen Großanlage munter durcheinander gewürfelt. Oft wohnen die Arbeiter in den Industrieanlagen selbst.

Zehn Menschen, kein Fenster

Nurdeen, ein Rohrleger aus Bangladesch, teilt sich in einem Lagerhaus mit neun Landsleuten einen Raum. »Fünf Doppelstockbetten, nur eine Lampe, kein Fenster. Du willst das nicht wirklich sehen«, meint er trocken. Nurdeen ist mit einem sogenannten freien Visum da. Es kostete ihn 25 000 Rupien, etwa 350 Euro, und damit das Doppelte des normalen Visums. Um so viel Geld zu bezahlen, verkaufte Nurdeens Vater ein Reisfeld. »Mit einem freien Visum kannst du 2000 Rial im Monat machen, mit einem, das dir dein Arbeitgeber besorgt, nur 1000 Rial«, erklärt er.

1000 Rial sind etwa 250 Euro. Allerdings: Von den neun Monaten, die er bislang in Katar verbracht hat, hat Nurdeen nur für vier Monate Arbeit gefunden. Und dabei noch die Ausbeutung der Arbeiter untereinander gemacht. »Der katarische Arbeitgeber zahlte wirklich 2000 Rial. Der Vorarbeiter, der mir den Job vermittelt hat, strich aber 1000 Rial ein«, meint Nurdeen. Dennoch geht er gleichmütig Tag für Tag auf den Tagelöhnermarkt in der Innenstadt Dohas, nur einen Steinwurf vom wundervoll mit kleinen Cafes und Läden hergerichteten »Souk Waqif«-Markt entfernt, und hofft auf einen neuen Job.

Nurdeen hatte gute Gründe, ein »freies Visum« auf dem Graumarkt zu besorgen. Wer sich regulär rekrutieren lässt, zahlt zwar weniger für das Visum, muss sich aber für oft horrende Rekrutierungsgebühren verschulden. Nabin, der Bauarbeiter aus Nepal, hat dafür eine Million nepalesischer Rupien bezahlt, knapp 9000 Euro. Er verdient im Monat mit Überstunden 1300 Rial - ein üblicher Tarif, deutlich über dem Mindestlohn von 900 Rial, den Nepal für seine ins Ausland geschickten Arbeiter gesetzlich festschreiben ließ. Um die Rekrutierungsgebühr abzuzahlen, müsste Nabin theoretisch 28 Monate arbeiten - und dabei nicht krank werden, immer Überstunden haben und diese auch bezahlt bekommen. Wenigstens Letzteres passiert momentan. »Mein australischer Vorarbeiter achtet darauf. Ein guter Mann«, sagt Nabin und zeigt mit dem Daumen nach oben.

Proteste bringen nichts

Wenn es anders wäre, könnte er das auch nicht ändern. Keine Chance, Geld einzuklagen, wenn der Arbeitgeber nicht zahlt, wie es Nabin bei früheren Engagements passierte. »Wohin sollten die Leute auch gehen? Zur Personalstelle im Unternehmen? Zum Nationalen Komitee für Menschenrechte? Es bringt doch alles nichts«, ist A., der Ingenieur vom Sandproduzenten für die Stadien, überzeugt. Nicholas McGeehan, Experte für die Golfregion von Human Rights Watch, hat die gleiche Beobachtung gemacht: »Die Arbeiter haben nur unzureichend Möglichkeiten, Beschwerden einzureichen. Das Nationale Komitee für Menschenrechte nimmt sie an. Aber es passiert kaum etwas. Katar setzt mittlerweile Arbeitsinspektoren ein. Aber es sind zu wenige. Und ihre Eingriffsmöglichkeiten sind gering.« Als im November 2014 mehr als 600 nepalesische Arbeiter für korrekte Lohnzahlung streikten, reagierten die katarischen Behörden mit der Ausweisung von mehr als 100 von ihnen. Wo der Rest gelandet ist, wissen nicht einmal die Lokaljournalisten, die diese Geschichte verfolgten. Die nepalesische Botschaft reagiert nicht auf Anfragen.

Die harte Hand Katars, verbunden mit der Tatsache, dass man bei einer Ausweisung erst recht nicht die Rekrutierungsgebühren wieder zurückzahlen kann, führt dazu, dass die meisten Arbeiter lieber still halten. »Sie sind gefangen in einem System der Zwangsarbeit«, kritisiert McGeehan die Situation. »Die einzelnen Probleme sind an sich schon gravierend. Aber zusammen wirken sie toxisch. Denn sie ergänzen und verstärken sich gegenseitig«, meint McGeehan zu »nd«. Es stellt sich also die Frage: Welcher Fußballfan will sich in Stadien setzen, deren Beton die Wut, Verzweiflung und Resignation ihrer Erbauer aufgesogen hat?

WM als Motor der Veränderung?

Immerhin sieht McGeehan in seinem inzwischen mehrjährigen Engagement Fortschritte: »Die staatliche Qatar Foundation und das Supreme Committee, die Ausrichterorganisation für die WM, haben sich zu ethischen Standards verpflichtet, die Vermittlungsgebühren und Lohndumping verbieten«, berichtet er. »Der Staat hat neue Gesetze angekündigt, die die Ausreise und einen Arbeitgeberwechsel zumindest nach Auslaufen des Vertrags ermöglichen. Es ist auch positiv, dass Journalisten und Nichtregierungsorganisationen nach Katar kommen und das Thema bearbeiten können. Wir können insgesamt mehr machen als in allen anderen Ländern der Region.« In Dubai etwa steht McGeehan wegen seiner Arbeit auf einer schwarzen Liste und darf nicht einreisen.

Damit Katar die im Mai versprochenen Reformen auch umsetzt, bedarf es nach Ansicht von Human Rights Watch weiteren Drucks - auch von westlichen Regierungen. »Sie können ihre Unternehmen hier doch nicht allein lassen. Die sind in der schwierigen Lage, möglicherweise Aufträge auf diesem lukrativen Markt zu verlieren, wenn sie die Sozialstandards, die in ihren Heimatländern gelten, hier durchsetzen wollen«, sagt McGeehan.

Über ein Fußballfeld zur eigenen Benutzung können sich übrigens nur ganz wenige der etwa 1,8 Millionen Arbeitsmigranten im Lande des WM-Ausrichters freuen. Immerhin machte im vergangenen Jahr Barwa Al Baraha auf, eine Mustersiedlung für gegenwärtig 20 000 Arbeiter. Hier gibt es auch ein Feld für Cricket und Fußball. Allerdings ist es nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Pro Jahr wächst Katars Population an Arbeitsmigranten um eben diese 20 000 Personen.

Nabin, der Bauarbeiter aus Nepal, der es nicht in die Vorzeigesiedlung geschafft hat, bleibt nur das traurige Fazit: »Katar ist deprimierend. Hier kannst du nur arbeiten, essen und schlafen. Du darfst nicht tanzen, nicht singen, keinen Alkohol trinken. Das ist kein freies Land.« Dann widmet er sich stoisch seiner einzigen Freude hier: einem Curryhuhn aus der Bräterei um die Ecke.

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