»Griechenland hat das Potenzial, aus der Krise zu kommen«
Weder SYRIZA noch Europäische Union können bestehendes Recht einfach brechen, sagt Europarechtler Pernice
nd: Macht Ihnen als Europarechtler der neue Kurs der Regierung Tsipras zur Beendigung der Krise Angst?
Pernice: Er macht mir keine Angst und ich denke, dass Griechenland aus der Krise herauskommt. Daran sind alle interessiert. Die Frage ist nur: wie. Sind die kämpferischen Thesen, die Tsipras geäußert hat, um die Wahlen zu gewinnen, ernst gemeint? Sollen sie tatsächlich so umgesetzt werden? Ist der Regierung Tsipras bewusst, dass es einen europarechtlichen Rahmen gibt, in dem die Bedingungen für Hilfspakete festgelegt sind? Wenn er die Troika auslädt und sie nicht prüfen lässt, dann ist das im Grunde schon ein Bruch der Bedingungen für die Gewährung der Hilfen, eine Aufkündigung des Vertrags. Damit ist jede Grundlage für weitere Hilfen weggefallen. Und wenn Athen meint, es bekommt trotzdem Geld, dann gibt es Probleme mit dem Bail-Out-Verbot, das im Artikel 125 des Vertrag über die Arbeitsweise der EU festgeschrieben ist und das jedenfalls eine Schuldenübernahme oder Schuldentilgung durch andere Staaten ausschließt.
Aber sind nicht die Bedingungen für die Zahlungen selbst schon eine Verletzung von völkerrechtlichen Bestimmen, wie der Europäischen Sozialcharta oder des UN-Sozialpaktes, die eine Sicherung sozialer Grundrechte einfordern? Beispielsweise sind ja faktisch Rentenkürzungen vorgesehen.
Man muss natürlich die genauen Bedingungen anschauen. Aber zunächst einmal haben wir eine Vereinbarung zwischen Griechenland und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, die beide Seiten akzeptiert haben. Eine genaue Analyse der ausgehandelten Bedingungen könnte in Einzelfällen ergeben, dass Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention oder der Sozialcharta, die als höherrangiges Recht und als Kriterium für die Gültigkeit und Zulässigkeit von anderen Rechtsakten herangezogen werden, verletzt sind. Das ist denkbar.
Was würde passieren, wenn das festgestellt würde? Welcher Rechtsakt steht dann höher?
Die Abkommen zu sozialen Fragen sind völkerrechtliche Vereinbarungen, kein EU-Recht. Somit kann bei Verletzungen der Europäische Gerichtshof nicht angerufen werden. Bei der Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention könnten sich Betroffene an den Gerichtshof für Menschenrechte wenden, dieser könnte die betreffenden Staaten dazu verurteilen, die Rechtsverletzungen abzustellen und den Geschädigten vielleicht eine Entschädigung zu zahlen. Die andere Frage ist, ob die Vereinbarung deshalb in Gänze nichtig ist. Das ist eine Abschätzung, wie fundamental die Bestimmungen in der Gesamtvereinbarung, die die Menschenrechte verletzen, für die Gesamtvereinbarung sind. Wenn diese Bestimmungen so wichtig sind, dass die Gesamtvereinbarung keinen Sinn mehr macht, dann müsste diese Gesamtvereinbarung aufgehoben werden. Wenn man aber die Bestimmungen nur streichen müsste und sagt, okay, der Aspekt XYZ ist nicht zulässig, dann könnte Griechenland sich darauf berufen, diesen nicht umzusetzen. Das wird niemand den Griechen übel nehmen dürfen und können, auch politisch. Aber ganz offen: Die Festlegungen in den Sozialpakten sind sehr schwammig formuliert. Ab wann eine relevante Verletzung von sozialen Rechten gegeben ist, ist nicht leicht zu definieren. Es ist schnell gesagt: Die Renten sind gekürzt, das sind soziale Rechte, die sind verletzt. Das heißt aber nicht schon, dass etwa die Europäische Sozialcharta verletzt wäre.
Tsipras hat vor der Wahl versprochen, die unsoziale Troika-Politik nicht mehr zu akzeptieren - und ist dafür demokratisch gewählt worden.
Ja, aber auch Wähler müssen verstehen, dass es Verpflichtungen gibt, im Völkerrecht und auch im Europarecht. Wenn Tsipras sagt, wenn ich Regierungschef werde, dann breche ich alle Verträge, dann ist das keine Frage der Demokratie, sondern von Populismus und Verführung des Volkes, das vielleicht wegen der Not verführbar ist. Auch die Souveränität eines Volkes in demokratischen Prozessen ist rechtlichen Bedingungen unterworfen - ebenso wie Griechenland als Staat. In diesem Rahmen können die Wähler wählen und Politiker entscheiden, was sie wollen. Aber wenn sie das Recht verletzen, dann müssen sie die Folgen von Verletzung des Rechts tragen. Als Privatperson komme ich ggf. ins Gefängnis, als Staat bekomme ich andere Probleme.
Heißt das also, die griechische Regierung unter Tsipras hätte gar keine Möglichkeit, aus den bisherigen Festlegungen herauszukommen?
Doch, Tsipras hat eine Möglichkeit, da herauszukommen, durch Verhandlung und Änderung der Vereinbarungen. Er kann auch sagen, ich möchte dieses System nicht fortführen. Dann stellt sich nur die Frage, woher er das Geld kriegt, um seine Kredite zu bezahlen. Oder Griechenland geht bankrott. Und wenn Griechenland bankrott ist, würde es den Menschen wohl kaum besser gehen als heute. Und es würde heute wohl keinen Dominoeffekt mehr geben nach dem Muster, wenn die griechischen Banken kaputt sind, dann ist die ganze europäische, vielleicht die globale Bankenwelt und damit das ganze Finanzsystem in der Krise, wie 1929. Das heißt, Griechenland hat kein Erpressungspotenzial, wie es früher mal da war. Dann aber ist es nur noch eine politische Frage: Wollen wir riskieren, dass Griechenland bankrott geht, was wiederum auch für den Euro nicht gut ist? Europa sollte ein gutes Interesse daran haben, alles zu tun, damit Griechenland nicht fällt. Wenn aber Tsipras sagt, an die existierenden Verträge halte ich mich nicht, dann sagen die anderen Staaten: Musst du aber, sonst fällst du.
Das dreht sich im Kreis.
Ja, da muss Europa gucken, was man machen kann, damit Griechenland nicht bankrott geht und auch die anderen Staaten ihr Gesicht bewahren können. Da ist kreatives Denken gefragt. Zum Beispiel halte ich die Vorstellung von Tsipras von einem Marshallplan für einen ganz validen Punkt. Es gibt Möglichkeiten, viele Investitionsmittel nach Griechenland zu bringen, die unter den gegenwärtigen Bedingungen Griechenland und seiner Wirtschaft auf die Beine helfen könnten, ohne dass wir das System ESM mit dem Memorandum of Understanding zerbrechen. Wir könnten sagen, wir machen das zu etwas milderen Bedingungen; wir geben zu, bei den Privatisierungen muss man differenzierter sein, wir geben zu, wir können keine Massenentlassungen in Griechenland provozieren, deshalb geben wir mehr Zeit und, und, und ... Das Entscheidende für Griechenland, aber dann auch für Spanien, Italien und Frankreich, ist, dass eine richtige Menge Geld mobilisiert wird, um zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Das alles funktioniert aber nicht, wenn Griechenland sein Steuersystem nicht funktionsfähig macht und die Verwaltung nicht reformiert wird. Wenn das jemand kann, ist es jetzt Tsipras. Griechenland hat das Potenzial, aus der Krise zu kommen, aber es wird trotz allen Geldes nicht ohne durchgreifende strukturelle Reformen gelingen.
Momentan wird aber von der EU-Seite nicht konstruktiv verhandelt, sondern gedroht. Auch mit dem Ausschluss Griechenlands aus der Euro-Zone.
Es gibt keinerlei rechtliche Handhabe, einen Mitgliedstaat des Euro auszuschließen. Es gibt auch keine Möglichkeit, ein Mitgliedsland aus der EU zu werfen, selbst wenn ein Staat komplett verrückt spielt. Alle, die jetzt meinen, Griechenland solle aus der Euro-Zone, wissen nicht, wovon sie reden. Sie propagieren den Rechtsbruch. Und was wäre das für ein politischer Schaden, Griechenland aus der Solidargemeinschaft EU rauszuwerfen! Griechenland ist ein Test. Wenn die Gemeinschaft jetzt nicht zusammenhält, haben wir den größten Schaden. Wenn wir Deutsche, die jetzt massiv verdienen an der Krise, rufen »Griechenland raus aus der EU!«, werden mit uns weder die anderen Mitgliedstaaten noch andere Länder in der Welt weiter zusammenarbeiten wollen. Eine solche Drohpolitik ist nicht gut für Europa.
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