Ausnahmezustand im Baskenland
Der spanische Staat geht mit aller Gewalt gegen die Unabhängigkeitsbewegung vor
»Wir wissen wirklich nicht, wo das noch hinführen soll.« Amaia Izko, Rechtsanwältin und Sprecherin der baskischen Linkspartei SORTU, macht ein besorgtes Gesicht. Dabei hat die Unabhängigkeitsbewegung eigentlich allen Grund, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. 2015 ist ein Wahljahr und die baskische Linke kann bei den Urnengängen mit höchst erfreulichen Ergebnissen rechnen. Bei den Kommunalwahlen hat sie gute Aussichten, die mehr als 100 Bürgermeisterposten zu verteidigen - darunter auch den von San Sebastián/Donosti, den der Arzt Karlos Izagirre vor vier Jahren überraschend für die radikale Linke eroberte. In der Provinz Araba wird die Koalition EH Bildu, der neben SORTU drei weitere linke Unabhängigkeitsparteien angehören, vermutlich erstmals stärkste Fraktion, und in der Autonomieregion Navarra, die historisch, aber nicht administrativ zum Baskenland gehört, sagen Umfragen eine alternative Mehrheit für EH Bildu und die spanischen Linksparteien Podemos und Izquierda Unida voraus.
Auch bei den Wahlen außerhalb des Baskenlandes deutet alles auf einen Politikwechsel hin. Die Wahlen in Katalonien im September sind von der Autonomieregierung zum Unabhängigkeitsreferendum deklariert worden und eine Juristenkommission hat im Auftrag der Generalitat bereits einen Entwurf für eine eigenständige katalanische Verfassung erarbeitet. Und für die landesweiten Wahlen von November schließlich wird der konservativen PP eine Niederlage vorhergesagt. Die Tage der spanischen Staatsparteien PP und PSOE (Sozialdemokraten) scheinen gezählt.
Doch im Baskenland ist von Euphorie wenig zu spüren. »Uns erwarten vor allem Gerichtsprozesse«, weiß die 43-jährige Anwältin Izko. Sie zählt auf: »35 Politikerinnen und Politiker aus verschiedenen Linksparteien werden in den nächsten Monaten wegen ›Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung‹ vor Gericht gestellt und müssen mit bis zu zwölf Jahren Haft rechnen. 28 Jugendliche sind wegen Mitgliedschaft in der Jugendorganisation SEGI angeklagt. Auch hier liegt das zu erwartende Strafmaß bei sechs bis zwölf Jahren. Es folgt ein Prozess gegen die internationalistische Organisation Askapena, die Solidaritätsbrigaden nach Lateinamerika organisiert. Hier sind fünf Leute angeklagt und ein Organisationsverbot ist zu befürchten. Weitere zwölf Politikerinnen und Politiker werden wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der politischen Koordination EKIN vor Gericht gestellt.« Außerdem gebe es einen Prozess gegen 15 Mitglieder von Batasuna und SEGI in Navarra, und schließlich einen Massenprozess gegen 44 Mitglieder der Solidaritätsorganisation Herrira, die sich für die Freilassung politischer Gefangener einsetze. »Insgesamt«, resümiert Izko, »sind das 150 Angeklagte in sechs Prozessen.«
Obwohl die ETA 2011 alle Aktionen dauerhaft eingestellt hat und faktisch nicht mehr existiert, geht der spanische Staat weiter mit aller Gewalt gegen die Unabhängigkeitsbewegung vor. Dabei dient die Ende der 1990er Jahre etablierte Doktrin Todo es ETA (»Alles ist ETA«) als Grundlage. Ermittlungsrichter Baltasar Garzón, der wegen der Anklage gegen den chilenischen Diktator Augusto Pinochet fälschlicherweise häufig für einen Menschenrechtsverteidiger gehalten wird, entwickelte diese Rechtsauslegung damals, um politische Organisationen im Baskenland kriminalisieren zu können. Seine Argumentation lautete folgendermaßen: Da die legale baskische Linke die strategischen Ziele der ETA teilt - ein Unabhängigkeitsreferendum und die sozialistische Transformation der Gesellschaft - und als Rekrutierungsfeld dient, sei sie als Vorfeldorganisation der ETA zu bewerten.
Garzóns Kriminalisierungsstrategie war für Madrid ein voller Erfolg: Die ETA wurde politisch und gesellschaftlich isoliert. Doch dabei blieben auch die demokratischen Grundrechte auf der Strecke: Zwei linke Tageszeitungen wurden verboten, darunter die durchaus ETA-kritische »Egunkaria«, ihr Chefredakteur Martxelo Otamendi, Aktivist der baskischen Schwulenbewegung, von der Guardia Civil gefoltert und die diesbezügliche Anzeige gegen die Polizeibeamten von der Justiz einfach unterschlagen. Batasuna - eine Partei, die immerhin etwa 15 Prozent der Wählerschaft vertrat - wurde ebenso wie drei Jugendorganisationen und Hunderte von lokalen Wählerlisten verboten. Insgesamt sitzen mittlerweile mehr als 100 der knapp 500 baskischen Gefangenen ausschließlich aufgrund politischer Aktivitäten ein.
»Einer der Prozesse wurde im Januar ausgesetzt«, erklärt die Anwältin Izko. »Allerdings nicht, weil Madrid seine Politik ändern will. Sie hatten uns Anwälte verhaftet. Wir sind jetzt selbst als Terrorunterstützer angeklagt.« Izko wurde direkt nach der Großdemonstration am 10. Januar in Bilbao festgenommen, auf der mehr als 80 000 Menschen eine politische Lösung des Gefangenenproblems gefordert hatten. Außerdem beschlagnahmte die Guardia Civil knapp 100 000 Euro, die von den Demonstranten gesammelt worden waren, um Inhaftierte und ihre Angehörigen finanziell zu unterstützen.
Zu einem Aufschrei in der Öffentlichkeit hat das nicht geführt. Man hat den Eindruck, Spanien habe sich mit dem baskischen Ausnahmezustand angefreundet. Selbst die Linke zeigt keinerlei Solidarität. Die neu gegründete Bürgerbewegung Podemos vermeidet jede Äußerung, die ihr Stimmen kosten könnte, und Izquierda Unida, die den Madrider Verfassungspakt inklusive König und politischer Sonderjustiz seit den 1970er Jahren mitträgt, spricht sich zwar für eine Freilassung des baskischen Linkspolitikers Arnaldo Otegi aus, aber schweigt ansonsten zur Repression im Baskenland.
So wird auch die aktuelle Führung der baskischen Linken demnächst wieder vor Gericht stehen. Asier Arraiz ist einer von ihnen. Der 41-jährige Romanist sitzt für das Wahlbündnis EH Bildu im Autonomieparlament von Gasteiz/Vitória und ist Generalsekretär von SORTU. Ende der 2000er Jahre gehörte er zu jenen Politikern, die den Strategiewechsel in der Unabhängigkeitsbewegung erzwangen und damit den Gewaltverzicht der ETA ermöglichten. Arraiz hat sich in der Jugendzentrumsbewegung und in alternativen Radios politisiert. Die Ohrringe von damals trägt er noch, bei Pressekonferenzen zeigt er sich heute aber auch im Kragenhemd.
»Wir wurden im Oktober 2007 verhaftet, am Ende der Friedensverhandlungen zwischen der PSOE-Regierung und der Unabhängigkeitsbewegung, die unter anderem in Genf geführt worden waren. Der Innenminister Rubalcaba kündigte uns zum Ende der Verhandlungen schon an, dass 200 baskische Linke verhaftet würden.« Und so kam es dann auch: Arraiz und seine Mitstreiter trafen sich mit dem Batasuna-Parteivorstand. Ihre Partei war illegal, aber Madrid hatte noch drei Wochen zuvor mit ihnen Friedensgespräche geführt. Der Geheimdienst, so Arraiz, habe gewusst, »dass wir uns in der Ortschaft Segura getroffen hatten, und riegelte alle Ortsausgänge ab. Ich war dann zweieinhalb Jahre im Gefängnis: in León, Madrid und Ciudad Real.«
Auch das gehört zur üblichen Praxis Madrids: Baskische Gefangene werden entgegen der spanischen Strafvollzugsordnung 400 bis 1000 Kilometer entfernt von ihren Wohnorten inhaftiert, sodass die Angehörigen für eine einstündige Besuchszeit schon einmal zweieinhalb Tage verreisen müssen.
Arraiz muss mit weiteren zehn Jahren in Haft rechnen. Doch der jugendlich wirkende Politiker blickt trotzdem mit einem Lächeln in die Zukunft: »Uns ist aus Madrid mitgeteilt worden, dass 2015 ein sehr hartes Jahr werden wird. Sie werden versuchen, so viele Aktivisten wie möglich zu verurteilen. Aber wir haben Hoffnung, dass sich politisch der Wind dreht.«
Arraiz’ Blick reicht über den baskischen Tellerrand weit hinaus. »Wir sind über das Erstarken des Rechtspopulismus in Europa sehr besorgt. Aber es gibt auch Anzeichen für eine linke Rebellion gegen den Neoliberalismus: der Wahlsieg von SYRIZA, das Erstarken von Sinn Fein in der Republik Irland und natürlich auch die Entwicklung im spanischen Staat. In Katalonien gibt es eine breite Bürgerbewegung, die einfach nicht nur die Unabhängigkeit fordert, sondern das Recht, demokratisch und in Referenden über alle Fragen entscheiden zu können - über einen eigenen katalanischen Staat, aber eben auch über die Sozial- und Wirtschaftspolitik.« Und schließlich sei da selbstverständlich das Phänomen Podemos: »Es ist noch ziemlich unklar, was Podemos will. Es mag auch sein, dass uns ihre Existenz Wählerstimmen kostet. Aber alle, die soziale und demokratische Rechte im spanischen Staat verteidigen wollen, sind für uns Verbündete.«
Die baskische Linke ist in Europa ein Sonderfall: Man ist an Verfolgung, lange Haftstrafen und persönliche Opfer gewöhnt. Asier Arraiz blickt aus dem Bürofenster in die Sonne von Donosti und lächelt: »Im Baskenland ist Podemos ein merkwürdiges Phänomen. Das sind fast alles Leute, die noch nie politisch aktiv waren, und das in einer so politisierten Gesellschaft wie der baskischen. Aber wenn sie Erfolg haben, würde das eine ganz neue Symmetrie schaffen. Wir hätten in sozialen Fragen mit Podemos eine Mehrheit und könnten in Fragen der territorialen Selbstbestimmung mit den baskischen Christdemokraten Bündnisse eingehen. Die Tür für demokratische Veränderungen wäre weit aufgeschlagen.« Zeit dafür wäre es.
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