Wie ein mahnender Zeigefinger
Im September 2014 öffnete in Winnipeg das Kanadische Museum für Menschenrechte - das weltweit einzige seiner Art
Über Menschenrechte reden heißt leider vor allem immer zuerst, über deren Verletzung überall auf der Welt zu sprechen. Wohl nirgendwo wird das umfassender und anschaulicher vor Augen geführt, als im Kanadischen Museum für Menschenrechte, das am 20. September des vergangenen Jahres in Manitobas Hauptstadt Winnipeg öffnete. Es ist nicht nur das einzige nationale Museum Kanadas außerhalb der Hauptstadt Ottawa, sondern auch das einzige seiner Art weltweit. Auf insgesamt 24 155 Quadratmetern widmet es sich umfassend den Rechten und den Emanzipationsbewegungen ganz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, unter anderem ethnischer Minderheiten, Frauen, Kindern, Menschen mit Behinderungen oder Schwulen und Lesben. Außerdem beleuchtet die interaktive Ausstellung die geschichtliche Entwicklung von Menschenrechten, geht den Ursprüngen von Diskriminierung auf den Grund und will Möglichkeiten aufzeigen, was jeder selbst tun kann, um dagegen vorzugehen.
Wie ein mahnend erhobener Zeigefinger reckt sich der »Tower of Hope« (Turm der Hoffnung) in den Himmel, der das außergewöhnliche Museum krönt. Die Idee dazu hatte 2003 Izzy Asper, ein kanadischer Medienmogul und Sohn jüdischer ukrainischer Einwanderer, der nicht nur jahrhundertelange weltweite Menschenrechtsverletzungen in einer für jedermann anschaulichen Form dokumentieren, sondern auch Winnipegs Innenstadt aufwerten wollte. Als er im gleichen Jahr 71-jährig starb, übernahm es seine Tochter, gemeinsam mit dem Verein »Freunde des Kanadischen Museums für Menschenrechte«, den Traum ihres Vaters zu verwirklichen. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, an dem sich 62 Unternehmen aus 21 Ländern beteiligten. Gewonnen hat der Entwurf des amerikanischen Architekten Antoine Predock aus New Mexico. Seine Idee: Das Gebäude ist Teil des Inhalts - es soll den Weg aus der Dunkelheit des Denkens zum Licht der Erkenntnis körperlich wie sinnlich verdeutlichen. Beim schrittweisen Aufstieg von den unterirdischen Teilen des Museums in den Turm der Hoffnung soll sich der Blick der Besucher weiten - und endlich oben angekommen, wird er aus 100 Meter Höhe nicht nur mit einem fantastischen Blick auf Winnipeg belohnt, sondern symbolisch auch in eine bessere Zukunft schauen.
Elf Jahre später ist Aspers und Predocks Vision wahr geworden - Winnipeg bekam ein neues Wahrzeichen, die Welt ein ganz besonderes Museum. Doch das Haus, über das jetzt die Medien unisono voll des Lobes sind, war lange auch umstritten und wurde von vielen - insbesondere von Menschenrechtlern - mit großem Argwohn beäugt. Nicht nur, weil es ihnen unvorstellbar schien, wie man es bei der schier endlosen Verletzung von Menschenrechten weltweit schaffen könne, das Thema so umfassend darzustellen, dass durch die Auswahl nicht neues Unrecht geschehe. Nicht wenige störten sich auch an dem Standort im Stadtteil The Forks, jenem historischen Ort, an dem mit der Ankunft der ersten Europäer Mitte des 18. Jahrhunderts die Vertreibung und Unterdrückung der Ureinwohner begann, die dort schon seit 6000 Jahren siedelten und am Zusammenfluss von Red River und Assiniboine River eine ihrer Heiligen Stätten hatten. Erst als umfangreiche Ausgrabungen keinerlei Hinweise auf menschliche Überreste ergaben, konnte mit nach langer Verzögerung 2008 mit dem Bau begonnen werden.
»Kanada hat in seiner Geschichte Fehler gemacht, etwa beim Umgang mit Nordamerikas Ureinwohnern. Dafür wollen wir uns entschuldigen«, sagte Museumsdirektor Stuart Murry zur Eröffnung. »Gleichzeitig wollen wir zeigen, wie sehr wir verinnerlicht haben, dass es für eine fortschrittliche Zivilisation absolut unverzichtbar ist, sich für Menschenrechte, Humanität und Demokratie einzusetzen.«
Die Besucher betreten das Museum über einen dunklen Raum, so dass sich alle Sinne auf die beleuchtete Wand konzentrieren, an die virtuelle Menschen in 25 Sprachen »Willkommen« schreiben. Über eine rund einen Kilometer im Zickzack ansteigende Brücke aus spanischem Alabaster gelangt man in die sieben Ausstellungsebenen. Die erste beschäftigt sich mit der Frage, was überhaupt Menschenrechte sind, und nähert sich dem Thema insbesondere aus der Perspektive der Ureinwohner Kanadas. Interessant und umfangreich ist eine Dokumentation über die Verletzung deren ethischer Rechte. Dafür reiste ein Reporterteam quer durchs Land, um Menschen zu ihren und den Erfahrungen ihrer Vorfahren mit Menschenrechtsverletzungen zu befragen. Die 18 so entstandenen Filme geben ein beredtes Zeugnis darüber ab, wie die Würde der Menschen bewusst mit Füßen getreten wurde und zum Teil noch immer wird. Ein alter Inuit erzählt über den Umgang der europäischen Einwanderer mit seinem Volk. »Wir waren arm, doch wir waren stolz«, sagt er, »sie wollten uns brechen, aber unsere Würde konnten sie uns nicht nehmen.« Ein Film erzählt vom Kampf Homosexueller für Gleichbehandlung und vom Glück des ersten gleichgeschlechtlichen kanadischen Paares, das 1972 offiziell heiraten konnte. Ein besonders dunkles Kapitel der kanadischen Geschichte sind die »verschwundenen Frauen«. Der Verband der indigenen Frauen Kanadas spricht von rund 1000 verschwundenen oder ermordeten Frauen der Inuit und Metis (Nachfahren von Europäern und Frauen indianischer Abstammung) seit den 1960er Jahren. Rote Kleider in einem imaginären Wald sollen an sie erinnern und fordern endlich Aufklärung des Skandals, den Amnesty International als »nationale Menschenrechtstragödie« bezeichnet.
Um Völkermord geht es auf der vierten Ebene. Gerade um diesen Teil der Ausstellung gab es im Vorfeld hitzige Diskussionen: Welche der zahlreichen Genozide sollen in dem Museum thematisiert werden? Kann man die Verbrechen überhaupt miteinander vergleichen? Und wie viel Platz wird den unterschiedlichen Menschheitsverbrechen jeweils zugestanden? Dass die letztliche Auswahl ein Kompromiss ist, sind sich die Ausstellungsmacher bewusst. Umfangreich widmeten sie sich dem Holocaust. Ein Modell vom KZ Auschwitz sowie zahlreiche Schriftdokumente und Videos zeichnen ein anschauliches Bild der Verbrechen der Nazis an den Juden. »Es ist gut, dass das so ausführlich dargestellt wird«, sagt ein kanadischer Journalist, der in der Betrachterin neben sich eine Kollegin erkennt. »Leider haben sich die meisten meiner Landsleute lange Zeit kaum dafür interessiert, zum Glück wächst in den letzten Jahren das Interesse.«
Neben dem Holocaust erfährt der Besucher auch vieles über den noch immer wenig bekannten Holodomor, die von Stalin zu verantwortende schwere Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933, der Millionen Menschen zum Opfer fielen. Auch den Völkermorden an den Armeniern im Ersten Weltkrieg und in Ruanda Mitte der 1990er Jahre widmet sich die Ausstellung, ebenso dem Massaker von Srebrenica 1995.
Auf dem weiteren Weg zum Turm der Hoffnung wird der Besucher noch mit einer Vielfalt von Themen konfrontiert: Wie sehen heute Menschenrechte aus? Wie kann man sie durchsetzen? Welche Verantwortung trägt jeder Einzelne dafür? Am Ende schwirren einem tausend Eindrücke und noch mehr Fragen durch den Kopf. Beim Verlassen des Museums fällt der Blick auf ein Foto von Nelson Mandela, der die Besucher anzulächeln scheint. Man ist geneigt, zurückzulächeln und ist sich sicher: Dieses Museum hätte ihm sehr gefallen.
Infos
Allgemeine Infos zu Winnipeg:
www.tourismwinnipeg.com
Touristische Infos zu Manitoba:
www.travelmanitoba.com/de
oder
Travel Manitoba,
c/o Denkzauber GmbH
Tel.: (01805) 52 62 32
E-Mail: manitoba@denkzauber.de
Literatur:
»Kanada - Der Westen«, Dumont Reise-Handbauch, 24,99 €
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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