Die Ukraine in der tiefsten Krise
Sieg des Maidan löste die Probleme nicht
Die Hoffnungen des Maidan blieben nicht nur unerfüllt. Heute befindet sich die Ukraine sogar in der tiefsten politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Krise seit Erlangung der Unabhängigkeit 1991. Das Fortbestehen eines einheitlichen Staates ist durch die Auseinandersetzungen zwischen der Staatsmacht und Regierungsgegnern im Osten und Südosten des Landes ernsthaft bedroht.
Daran ändert sich auch nichts durch die Minsker Vereinbarungen vom 12. Februar 2015, die zu einem dauerhaften Ende der militärischen Auseinandersetzungen in den Gebieten Donezk und Luhansk führen sollen, jedoch die tieferen Ursachen des Konflikts nicht beseitigen. Dafür bedürfte es der grundsätzlichen Bereitschaft zu Kompromisslösungen aller am Konflikt beteiligten inneren Kräftegruppierungen und ihrer ausländischen Unterstützer für eine Neugestaltung der Verfassungsordnung der Ukraine, für die einvernehmliche Einbindung der Ukraine in europäische und eurasische Integrationsstrukturen sowie für eine grundlegende Erneuerung des Verhältnisses zu Russland und dem Westen. Die Minsker Vereinbarungen können in dieser Richtung nur ein erster Schritt sein.
Die innen- und außenpolitischen Auseinandersetzungen um das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zielten von Anfang an nicht nur auf den Sturz des korrupten Regimes von Präsident Viktor Janukowitsch, sondern auf einen grundsätzlichen politischen Kurswechsel zur dauerhaften Bindung der Ukraine an EU und NATO sowie zur Absage an die Bestrebungen Russlands, die Ukraine in eurasische Integrationsstrukturen einzubinden.
Eine »Europäische Orientierung« des Landes wird seit Jahren von einer Bevölkerungsmehrheit befürwortet. Vor einem Jahr kamen in Kiew nach wochenlangen Massenprotesten gegen die Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU konservativ-nationalistische Kräfte an die Macht. Sie erfreuten sich massiver Unterstützung durch die USA und andere westliche Staaten und verfolgten seit jeher einen strikten Kurs der Westorientierung. Diese Kräfte verfügen über enge politische, wirtschaftliche und organisatorische Verbindungen zu staatlichen und wissenschaftlichen Institutionen sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen in den USA, Kanada und westeuropäischen Staaten und werden von diesen materiell und ideell unterstützt.
Allerdings verstehen die meisten Ukrainer unter »Europäischer Orientierung« vor allem eine Angleichung der allgemeinen Lebensbedingungen an die Standards der EU und die ungehinderte Teilhabe an den Vorzügen der europäischen Integration mit ihren Reise-, Studien- und Arbeitsmöglichkeiten.
Eine dauerhafte Abgrenzung von Russland, wie sie seit dem Machtwechsel in Kiew offizielle Regierungspolitik ist, stößt dagegen vor allem in den östlichen Landesteilen auf Ablehnung. Man befürchtet negative Folgen für die bestehenden engen Wirtschaftskooperationen mit russischen Unternehmen und eine Einschränkung der traditionell engen persönlichen Bindungen.
Die politischen Aktivitäten der national-konservativen und nationalistischen Kräfte zur personellen Neubesetzung der Verwaltungsorgane in den östlichen Landesteilen und zur »Ukrainisierung« des gesamten öffentlichen Lebens in Sprache, Kultur und Geschichte unmittelbar nach dem Machtwechsel führten in den ostukrainischen Gebieten zu scharfen Auseinandersetzungen um die politische Macht und schließlich durch die Bewaffnung von extremistischen Kräften auf beiden Seiten zu den militärischen Auseinandersetzungen in den Gebieten Donezk und Lugansk mit Tausenden Opfern. All das brachte unermessliches Leid für die Bevölkerung, enorme Zerstörungen in der Wirtschaft und Infrastruktur sowie nachhaltige negative Folgen für das friedliche Zusammenleben der Völker dieser Region und ganz Europas.
Die tieferen Ursachen für diese tragischen Entwicklungen sind außerordentlich vielschichtig und komplex. Sie liegen zum einen in der unvollkommenen Gesellschaftstransformation, durch die es zur Herausbildung einer »Funktionsdemokratie«, d.h. von »demokratischen Strukturen und Instituten« kam, die lediglich den Funktionsträgern und hinter ihnen stehenden Herrschaftseliten zur Machtsicherung dienten.
Zum anderen wird die gesamte Entwicklung in der Ukraine außerordentlich stark von den geopolitischen Zielsetzungen sowohl Russlands als auch des Westens, vor allem der USA, in der postsowjetischen Region geprägt. Deshalb gewannen die innenpolitischen Auseinandersetzungen in dem Maße an Schärfe, wie sich die Beziehungen Russlands zu den USA und zur Europäischen Union in Folge wieder erstarkter russischer Positionen verschlechterten. Russland setzte der Einbindungspolitik des Westens eigene Integrationsprojekte entgegen.
Der gewaltsame Machtwechsel und die Grundsatzentscheidung zur Einbindung der Ukraine in die westlichen Integrations- und Bündnisstrukturen führten auf russischer Seite zu einseitigen und zum Teil übereilten Reaktionen. Mit der völkerrechtswidrigen Eingliederung der Krim in die Russische Föderation im März 2014 sowie der politischen, moralischen und materiellen Unterstützung der Regierungsgegner in den bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ostukraine durch Russland ist das gesamte ukrainisch-russische Beziehungsgefüge dauerhaft untergraben. Eine Rückkehr zu gut nachbarlicher Zusammenarbeit ist außerordentlich erschwert und eine geregelte Anbindung der Ukraine an die eurasischen Integrationsstrukturen auf lange Zeit ausgeschlossen.
Mit dem vor einem Jahr vollzogenen Macht- und Kurswechsel in der Ukraine sind die großen wirtschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Probleme des Landes nicht gelöst. Die existenziellen Herausforderungen, vor denen die Ukraine steht, erfordern zwingend die konsequente und dauerhafte Einhaltung der in Minsk vereinbarten Beendigung der militärischen Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine. Nötig sind dauerhafte Regelungen für den Verbleib der ostukrainischen Regionen im ukrainischen Staatsverband und eine einvernehmliche Klärung des Verhältnisses zu Russland. Da sich militärische Lösungen für eine Konfliktbeilegung ausschließen, bleibt nur der Weg, in Verhandlungen zwischen allen Beteiligten - also die ukrainische Regierung, Separatisten, Russland, EU und USA - Kompromisslösungen für den Ukraine-Konflikt im Kontext des Gesamtverhältnisses zwischen EU und Eurasischer Union zu vereinbaren, die für einen längeren Zeitraum Frieden und Stabilität in der Region sichern.
Die Minsker Erklärung der Präsidenten Russlands, der Ukraine und Frankreichs sowie der deutschen Bundeskanzlerin kann dafür trotz der jüngsten massiven militärischen Auseinandersetzungen um Debalzewo und wiederholt aufflammender Gefechte eine Grundlage bieten.
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