Unterwegs nach Waterloo

Steffen Annies will wieder Stratego-Weltmeister werden.

  • Lesedauer: 5 Min.

So muss sich wohl Macbeth gefühlt haben, als es dereinst ziemlich eng wurde für ihn. Weil Shakespeares unglückseliger Held, vom Ausguck seiner Burg Dunsinane ins Dunkle spähend, schreckensbleich bemerkte, dass offenbar die Stunde einer irren Prophezeiung geschlagen hatte. Indem eben noch fest verwurzelte Baumreihen plötzlich in Bewegung gerieten und auf die Festung vorrückten.

Und heute nun, in einer Art Spiegelung des Macbeth-Szenarios, wenngleich radikal geschrumpft auf Bonsaiformat, ist es wieder eine amorphe, tarnende Masse, die drohend heranwalzt. Wobei sich der aggressive Forst Marke Shakespeare jetzt allerdings in eine Phalanx fetter blauer Türmchen verwandelt hat. Eine ungemütliche Lage. Die sich kaum besser anfühlt, wenn du dir sagst: Hey, cool bleiben, das hier ist nicht real, das ist bloß eine Partie »Stratego«!

Tarnen und Täuschen: Diese Fähigkeiten sind, den Macbeth-Bezwingern Malcolm und Macduff würd's gefallen, auch im Zwei-Personen-Duell Stratego gefragt. Und einer, der das zwischen Berlin, Hamburg und München wie kaum ein Zweiter beherrscht, ist aus Mannheim. Der 25-jährige Einzelhandelskaufmann Steffen Annies ist Ex-Weltmeister, hat schon fünfmal den Titel der Republik geholt und ist auch momentan die deutsche Nummer Eins.

»Ich bin Feuer und Flamme für Stratego!« sagt Steffen Annies. Ein Match in seiner Spezialdisziplin ist entschieden, sobald einer der Kontrahenten, die entweder die rote oder blaue Armee befehligen, die gegnerische Fahne erobert hat. Insofern scheint Stratego verwandt mit Schach, dessen Regeln bekanntlich verlangen, den feindlichen König »matt« zu setzen. Steffen Annies sagt: »Stratego finde ich deutlich kreativer.«

Ein Urteil, das eingefleischte Schachfans kaum unterschreiben dürften. Steffen Annies kann damit leben, schließlich ist auch er ein Überzeugungstäter. »Jede Schachpartie entwickelt sich aus exakt derselben Startstellung, die bestimmte Zugfolgen verlangt, folgerichtig werden die Linien eines Matches vorgegeben«, doziert er. »Demgegenüber kannst Du im Stratego einen persönlichen Stil entwickeln. Und zwar gemäß der Grundregel, dass du frei entscheiden darfst, wie du die verschiedenen Steine über deinen Sektor verteilst.«

Das allein garantiert viele Überraschungen. Hinzu kommt der eingangs beschriebene Clou des Stratego: Die Spieler können die konkrete Aufstellung der feindlichen Truppe (pro Partei 40 Steine auf einem 100-Felder-Brett) nicht erkennen, geschweige denn die gesuchte Fahne orten. Regiert demnach blinder Zufall am Brett? »Klar, ein wenig Glück gehört dazu«, räumt Steffen Annies ein. Andererseits sei der Unsicherheitsfaktor eine Herausforderung: »Ohne Erkundungsvorstöße, die eventuell Figuren kosten, kannst du nicht gewinnen. Aber die Opfer lohnen sich. Sie geben Hinweise, wie der andere seine Leute gruppiert hat. Und in welchem Winkel vielleicht die Fahne versteckt worden ist.«

Steffen Annies demonstriert ein Standardmanöver. Am Ostufer der beiden Seen, die für eine surreale Idylle in der Brettmitte sorgen, wagt sich ein roter Unteroffizier nach vorne. Erreicht er die gegnerische Linie, folgt ein Handgemenge durch Abfragen: Der Verteidiger enthüllt die Identität der konkreten Einheit, die der Rote aus dem Weg räumen möchte, indem er das Teil umdreht. Anschließend muss der Rangniedere - falls sich der rote Leutnant mit einem blauen Hauptmann angelegt hat - die Walstatt verlassen. Während der Mann, der in diesem Scharmützel die Oberhand behält, einen 180-Grad-Rückwärtsschwenk vollzieht und sich erneut dem Einheitslook seiner Kameraden anpasst.

Erfolgreiche Strategozocker trainieren deswegen speziell ihr Kurzzeitgedächtnis, sammeln mit jedem Schlagabtausch wertvolle Informationen, die nach und nach ein Gesamtbild ergeben. »Eine deutliche Anleihe beim Kartenspiel Memory«, meint Steffen Annies. Außerdem gehörten Bluffs zur Taktik: »Suchst du mit einer schwachen Figur die Konfrontation, bringst du den Gegner auf die falsche Spur. Und ihm entgeht, wo sich deine Elitekämpfer für den entscheidenden Schlag sammeln.«

Unverzichtbar ist ferner ein Pokerface. »Manche Leute kriegen einen feuerroten Kopf, sobald sie erkennen, dass es kritisch wird, weil der Angreifer direkt auf ihre Fahne zusteuert.« Mithin ist Stratego eine spannende Mischung aus Schach, Memory und Poker, resümiert Annies.

Ein originelles Konzept, das der Niederländer Jacques Johan Mogendorff im Zweiten Weltkrieg am heimischen Küchentisch ausgetüftelt hat. Um, wie es heißt, seine zwei Söhne vom Schrecken der deutschen Besatzung abzulenken. Der 1898 in Groenlo geborene Kaufmann ließ das Spiel, in das Ideen eines französischen Vorläufers namens »L'Attaque« eingeflossen waren, am 20. April 1942 als Handelsmarke registrieren. Doch ein Jahr später wurde die gesamte jüdische Familie Mogendorff ins KZ Bergen-Belsen deportiert. Die Leidenszeit der Mogendorffs endete zwar mit der Befreiung aus dem Todeslager am 13. April 1945, aber Jacques Vater Johan war von den SS-Schergen derart misshandelt worden, dass er 1961 an den Spätfolgen des KZ-Terrors starb.

Ein Schatten, der über Stratego liegt, jedenfalls aus deutscher Sicht. Dagegen können die Niederländer unbelastet mit der Erfindung ihres Landsmannes umgehen. Auch die Weltrangliste wird von unseren westlichen Nachbarn dominiert.

Eine Vormachtstellung, die freilich nicht zementiert ist für alle Ewigkeit. 1999 haben Enthusiasten einen deutschen Strategoverband gegründet. Dessen unangefochtener Frontmann ist aktuell Steffen Annies. Bei der WM 2009 hatte er es an den Niederländern vorbei sogar sensationell auf Platz 1 geschafft. Ein Riesenerfolg, den Steffen Annies nur zu gerne wiederholen will - bei der diesjährigen WM, die im August 2015 im belgischen Waterloo steigt.

Nebenbei hat Steffen Annies einen Traum: nach Asien zu reisen, um dort das chinesische Schach »Xiangqi« auszuprobieren. Warum? Einmal habe er in einem deutschen China-Restaurant das Strategobrett herausgeholt, um ein paar Manöver zu üben. Patron und Kellner versammelten sich um den Tisch und entdeckten eine verblüffende Parallele: die Seen des Stratego, die sie an das uralte Xiangqi erinnerten, wo der See allerdings ein Grenzfluss ist.

Eine verrückte Gleichzeitigkeit der Ideen, und irgendwann wird sich Steffen Annies auf diese Spur setzen. Vorher ist für den diesjährigen Höhepunkt aber fleißig Strategotraining angesagt. Stratego sei »Learning by doing«, betont Annies, und die WM 2015 in Waterloo soll kein privates Waterloo werden. Die nächsten Wettkämpfe zum Warmspielen sind fest im Terminkalender eingetragen: am 14. März das Gießen Open im hessischen Wettenberg, und Mitte April im Ruhrpott ein Turnier in Wuppertal.

Weitere Infos zu Stratego in Deutschland mit Regeln, Strategietipps und Turnierterminen: www.stratgo-verein-deutschland.de; Meisterpartie zum Abgucken: www.youtube.com/watch?v=n1JonuBAjFg

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