Völkerrechtler: Athens Forderungen sind zulässig
Frage der Reparationen: Fischer-Lescano kritisiert ablehnende Haltung der Bundesregierung / Verbalnote von 1995 beweist: Griechenland hat Ansprüche nicht fallengelassen
Update 15.15 Uhr: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat die Bekräftigung der Forderungen aus Griechenland nach Wiedergutmachungszahlungen für NS-Unrecht zurückgewiesen. »Wir bekennen uns zu unserer historischen und moralischen Verantwortung. Aber rechtlich ist die Frage von Wiedergutmachungen abgeschlossen«, sagte Steinmeier am Donnerstag bei einem Besuch in Washington. Der SPD-Politiker verwies auf ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs, mit dem 2012 ein jahrelanger Rechtsstreit zwischen Deutschland und Italien beendet wurde. Das internationale Gericht hatte entschieden, dass die italienische Justiz Deutschland nicht zur Zahlung individueller Entschädigungen für Opfer von Nationalsozialisten verurteilen kann. Steinmeier sagte, bei dem Verfahren sei Griechenland beteiligt gewesen. Das Gericht habe damals in einem »sehr eindeutigen Urteilsspruch« entschieden, dass solche Wiedergutmachungsleistungen nicht zugelassen seien. »Insofern können wir mit einigem Recht sagen, dass es keine Wiedereröffnung der Wiedergutmachungsdebatte geben wird.«
Update 10.45 Uhr: Der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, sieht die von Athen erneut ins Spiel gebrachte Rückzahlung eines griechischen Zwangskredits an Nazi-Deutschland von 1942 als berechtigt an. Die von der Besatzungsmacht eingeforderte Zwangsanleihe müsse »auf alle Fälle« zurückgezahlt werden, sagte Riexinger am Donnerstag im »Morgenmagazin« der ARD. »Das verjährt auch nicht. Das ist ein Kredit, der zurückgezahlt werden muss. Da haben die Griechen recht«, erklärte er. Die Bundesregierung sieht die Entschädigungsfrage als erledigt an. »Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzung in Griechenland wäre man gut beraten, die ganze Sache nicht so harsch zurückzuweisen«, erklärte Riexinger. Er riet der Bundesregierung, »sich auf den Weg des Dialogs, der Verständigung und des Rechts zu begeben«.
Frage der Reparationen: Fischer-Lescano kritisiert ablehnende Haltung der Bundesregierung
Der Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano hat die ablehnenden Haltung der Bundesregierung zu Forderungen Griechenlands nach Begleichung von Kriegsschulden kritisiert. »Die Argumentation der Bundesregierung ist juristisch sehr dürftig und anfechtbar«, sagte der Bremer Rechtsprofessor der ARD-Sendung »Kontraste«. Der 2+4-Vertrag, auf den sich Berlin stets beruft, binde »Griechenland nicht, denn es ist nicht Partei dieses Vertrags. Es ist völkerrechtlich nicht zulässig, einen Vertrag zu Lasten Dritter - in diesem Falle Griechenlands - abzuschließen«, so Fischer-Lescano.
Die Bundesregierung hatte zuvor erneut die Forderung aus Athen nach Reparationen für Verwüstungen und Schäden aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs strikt zurückgewiesen. Die Frage von Reparationen und Entschädigungszahlungen sei rechtlich und politisch umfassend sowie abschließend geklärt, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch in Berlin. Auch in den meisten deutschen Medien wurde die Forderung aus Athen mit drastischen Worten zurückgewiesen. Die »Kölnische Rundschau« etwa kommentiert, es handele sich um »ein innenpolitisch motiviertes Ablenkungsmanöver der Regierung Tsipras«, zudem sei das Vorgehen »dreist«.
Die Argumentation der Bundesregierung: Im Londoner Schuldenabkommen von 1953 sei die Regelung der deutschen Reparationen auf die Zeit nach Abschluss eines »förmlichen Friedensvertrages« vertagt worden. Diese Regelung wiederum sei 1990 durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag zur Wiedervereinigung gegenstandslos geworden - die Bundesregierung liest den Vertrag so, dass die Reparationsfrage nach dem Willen der Vertragspartner nicht mehr geregelt werden sollte. Dem habe auch Griechenland zugestimmt, da es die KSZE-Charta von Paris unterzeichnet habe. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, so die Gegenmeinung in Athen, sei damals nur zur Kenntnis genommen worden, damit sei die Reparationsfrage noch nicht geklärt.
Auch die Frage der Rückzahlung einer von den deutschen Besatzern 1942 aufgenötigten Zwangsanleihe versucht die Bundesregierung auszusitzen. Die Forderung soll heute mindestens rund 3,5 Milliarden US-Dollar Wert sein. Andere Angaben gehen von 75 Milliarden Euro aus - wie auch die Bundesregierung bestätigt. Schon vor Jahren hatte sich die damalige PDS-Fraktion im Bundestag bei der deutschen Regierung um Aufklärung über diese Frage bemüht. Im Jahr 2000 antwortete das Bundesfinanzministerium auf eine Anfrage der PDS: Die Bundesregierung sei »nicht bereit, diese Forderungen anzuerkennen«.
Dreist und gefährlich
Tom Strohschneider über den »Bild«-Wahlkampf gegen Syriza, eine NS-Zwangsanleihe von 1942 und die offene Frage von Reparationen an Griechenland - hier
Das griechische Parlament will nun erneut Reparationsforderungen aus dem Zweiten Weltkrieg an Berlin prüfen. Dazu berief das Parlament einen Ausschuss aller Parteien ein, wie das Parlamentspräsidium am Dienstagabend mitteilte. »Damit ehren wir alle Opfer des Zweiten Weltkrieges und des Nazismus (...) sowie des griechischen Widerstandes«, sagte der griechische Regierungschef Alexis Tsipras. »Wir vergessen nicht, dass das deutsche Volk auch unter den Nazis gelitten hat«, fügte der griechische Premier hinzu. Tsipras erinnerte daran, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg »zurecht« mit einem Schuldenschnitt geholfen wurde, wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Seitdem sperrten sich die deutschen Regierungen mit »juristischen Tricks«, um nicht mit Athen über Reparationen zu reden, sagte er.
»Griechenland hat zu keinem Zeitpunkt völkerrechtlich wirksam auf Reparationen verzichtet. Die ehemaligen Kriegsgegner haben nun die Möglichkeit, ihre Forderungen geltend zu machen«, darauf verweist nun auch Fischer-Lescano. Die Bundesregierung hatte bisher argumentiert, dass Athen die Forderung seit langem nicht mehr offiziell geltend gemacht habe. Zwar hatten die Vorgängerinnen der SYRIZA-geführten Regierung offenbar aus politischer Rücksicht die Forderung nach Reparationen nicht juristisch verfolgt, so doch aber immer wieder verbal untermauert.
Als Bundespräsident Joachim Gauck im vergangenen März in Athen weilte, forderte auch der griechische Staatspräsident Karolos Papoulias, es müssten so schnell wie möglich Verhandlungen über Reparationen und die Rückzahlung einer von den Nazis erhobenen Zwangsanleihe aufgenommen werden. »Griechenland hat diese Forderungen nie aufgegeben«, sagte Papoulias damals.
»Wir sind es unserer Geschichte schuldig«
Das griechische Parlament will Reparationsforderungen aus dem Zweiten Weltkrieg an Berlin prüfen. Rede von Alexis Tsipras anlässlich der Einsetzung eines entsprechenden Ausschusses - hier
Im Februar 2014 hatte das Bundesfinanzministerium auf Anfrage der Linksfraktion erklärt: »Ein formeller, endgültiger Verzicht der griechischen Regierung auf die Geltendmachung von Reparationsforderungen ist der Bundesregierung nicht bekannt.« Im Januar 2015 behauptete die Bundesregierung laut dem ZDF, dass es keine Forderung seitens der griechischen Regierung gebe. Juristen des Bundestags hatten auch in als vertraulich deklarierten Gutachten darauf verwiesen, dass es bei der Beurteilung möglicher Ansprüche aus Athen von Bedeutung sei, ob eine griechische Regierung »konkludent verzichtet« habe, was voraussetze, »dass Griechenland im Hinblick auf die Geltendmachung des Anspruches untätig war«.
Das ist offenbar nicht der Fall, wie ein Dokument bestätigt, das das ZDF vorgelegt hat: eine Verbalnote aus dem November 1995. Darin macht die griechische Botschaft in Berlin gegenüber dem Auswärtigen Amt unmissverständlich deutlich, dass Athen »nicht auf seine Ansprüche auf Entschädigungen und Reparationen für während des Zweiten Weltkrieges erlittene Schäden verzichtet« habe. »Die politischen und völkerrechtsvertraglichen Gründe sind bekannt, die die Entscheidung über dieses wichtige Problem verzögert haben. Die griechische Regierung ist aber jetzt fest davon überzeugt, dass die Zeit zur Bewältigung dieses Problems und zur Ausarbeitung einer von beiden Seiten akzeptablen Lösung reif ist.«
In einem der Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, die dem »nd« vorliegen, heißt es zu Frage der »Dauer des Stillschweigens«, es könne in dem Fall der griechischen Reparationen allerdings »dem schlichten Umstand ein besonderes Gewicht zukommen, dass der potentielle Gläubigerstaat seine Reparationsforderungen selbst 68 Jahre nach Kriegsende (...) noch nicht in einem förmlichen völkerrechtlichen Verfahren geltend gemacht hat«. Das Gutachten verwiest darauf, dass Athen zumindest nach 1990 offiziell der Interpretation hätte widersprechen müssen, dass durch den Zwei-Plus-Vier-Vertrag die Frage der Reparationen abgeschlossen sei. Dazu seien öffentliche Stellungnahmen von Politikern juristisch nicht ausreichend, so die Expertise. Vielmehr hätte es »in einem förmlichen diplomatischen Verfahren zur Kenntnis gebracht« werden müssen - was aber offenbar durch die Verbalnote von 1995 geschehen ist.
Die ARD-Sendung verweist auch auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 2003, nach dem die Auffassung der Bundesregierung, sämtliche Reparationsforderungen seien mit dem 2+4-Vertrag zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands obsolet geworden, nicht zutreffend sei. In Bezug auf das Londoner Schuldenabkommen, in dem die ehemaligen Kriegsgegner 1953 vereinbarten, dass die Verhandlungen über deutsche Kriegsschulden bis zur Einheit Deutschlands zurückgestellt würden, stellt der Bundesgerichtshof außerdem fest: »Das Londoner Schuldenabkommen ist jedoch durch die abschließende Regelung im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands als Moratorium gegenstandslos geworden.« Dies bedeutet, dass die ehemaligen Kriegsgegner nun die Möglichkeit hätten, ihre Forderungen geltend zu machen.
Zu den Reparationsforderungen Athens liegt in Griechenland bereits eine erste Studie vor. Auf der Grundlage dieser Untersuchung prüft der Oberste griechische Gerichtshof zurzeit, wie mögliche Reparationsforderungen an Deutschland erhoben werden können. Die Studie existiert bereits seit Anfang März 2013, wird aber als streng geheim eingestuft. Die Athener Zeitung »To Vima« hatte sie jedoch am vergangenen Sonntag veröffentlicht. Die Gesamtforderungen werden darin in einer Höhe zwischen 269 und 332 Milliarden Euro beziffert. mit Agenturen
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