Formative Phase
Wie las Karl Marx? Und was dachte er dabei? Ingo Stützle über den neuesten MEGA-Band und die »Manchester Hefte«.
Vor ziemlich genau 150 Jahren, um den 23. März 1865 herum, bekam Karl Marx Post aus Deutschland. Der Philosoph und Ökonom lebte da bereits seit 15 Jahren in London. Mit dem Schreiben des Otto-Meißner-Verlags kamen auch die Vertragsunterlagen für ein Buch, das später zu einem der weltbekanntesten werden sollte: »Das Kapital«. Ein Erscheinen war für den Herbst 1867 geplant.
Etwa 20 Jahre vor diesem einschneidenden Ereignis betrat Marx das erste Mal englischen Boden. Eine Studienreise führte ihn zusammen mit seinem Freund Friedrich Engels nach Manchester, wo Engels schon einige Zeit verbracht hatte. Beide planten die Herausgabe einer »Bibliothek der vorzüglichsten sozialistischen Schriftsteller des Auslandes« und wollten hierfür Material sichten. Marx plante zudem eine Schrift, die nie erschien: »Zur Kritik der Politik und Nationalökonomie«.
Die Anfänge einer historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe liegen in den 1920er Jahren: In Sowjetunion wurde das zunächst auf 40 Bände angelegte Mammutprojekt ab 1927 unter Leitung von David Rjasanow auch begonnen – nach elf Ausgaben endete die Sammlung von wirklich allem, was Marx und Engels je zu Papier brachten. Stalin befahl das Aus, weil das sich in der MEGA abzeichnende Denkgebäude nicht mit dem starren Rahmen eines »Marxismus-Leninismus« zusammenpasste. Rjasanow wurde hingerichtet.
In den 1970er Jahren gab es einen Neuanfang: In Berlin und Moskau wurde abermals damit begonnen, bis zur Wende erschienen 34 Text- und Kommentarbände. Die MEGA erwarb hohes Ansehen in einer zunehmend globalen Forschungslandschaft, die sich für Marx, Engels und deren Schriften interessierte.
Dann fiel die Mauer – und erneut stand das Projekt vor dem Aus.
Doch Wissenschaftler, Politiker und Verleger aus vielen europäischen Ländern, Japan und den USA setzten sich nachdrücklich für die Fortführung der Ausgabe ein. Auf Initiative des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte, in dessen Besitz sich der größte Teil der Handschriften von Marx und Engels befindet, wurde 1990 in Amsterdam die Internationale Marx-Engels-Stiftung gegründet, die seither die MEGA als akademische Edition in internationaler Forschungskooperation herausgibt. Nunmehr auf einen Endumfang von 114 Doppelbände ausgerichtet, sind bisher 60 erschienen.
Der hier besprochene Band ist der erste, der im Verlag De Gruyter erscheint und nicht mehr zwei Teilbände umfasst. Der Textband und der wissenschaftliche Apparat finden sich in einem über 600 Seiten starken Buch.
Ingo Stützle ist Politikwissenschaftler. Er hat zum Thema »Ausgeglichener Staatshaushalt als hegemoniales Projekt« promoviert und arbeitet als Redakteur der »Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft« sowie als Teamer bei »Kapital«-Lesekursen. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Stephan Kaufmann): »Kapitalismus. Die ersten 200 Jahre. Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert« (bei Bertz + Fischer). Mehr unter: stuetzle.cc
Was während des Aufenthalts in Manchester entstand, waren jedoch neun Exzerpthefte. Vier der sogenannten Manchester-Hefte sind jetzt in der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) erschienen (die Hefte 1 bis 5 bereits 1988) - sie markieren einen Übergang in Marx’ Arbeit und Selbstverständnis. Die Herausgeber des neuen MEGA-Bandes bezeichnen die Zeit ab 1845 deshalb auch als »formative Phase«: »Marx begibt sich in dieser Phase ganz bewusst auf das Feld der politischen Ökonomie und damit auf die Ebene eines Wissenstyps, der gerade erst seine Formierung und Kanonisierung abgeschlossen hat und maßgeblich das Gesellschaftsdenken des 19. Jahrhunderts prägen wird.« Der Untertitel des Kapitals wird nicht ohne Grund »Kritik der politischen Ökonomie« sein.
1845 rechneten Marx und Engels mit ihrem »philosophischen Gewissen« ab, wie Marx es selbst formulierte. Marx lässt ein bestimmtes theoretisches Selbstverständnis hinter sich, wendet sich zunehmend der Ökonomiekritik zu - und auch das »Proletariat« ist nicht mehr einfach ein philosophischer Begriff, sondern eine reale, soziale Größe, die wirkliche Assoziation der kämpfenden Arbeiterklasse. »Man muss die ›Philosophie beiseite liegen lassen‹«, schrieben Marx und Engels in der »Deutschen Ideologie«, die fast zeitgleich entstand. Beide sind geradezu berauscht von der gesellschaftlichen Realität und der Empirie, von realen Auseinandersetzungen und der Materialität gesellschaftlicher Praxis - und »der Produktion« im umfassenden Sinn. Etwas, was 1845 in Manchester auch außerhalb der Studierstube zu erfahren war. Manchester war eines der industriellen Zentren der Welt. Aber nicht nur deshalb gingen die beiden Revolutionäre nach Manchester und nicht etwa nach London. Die englische Weltmetropole hatte zwar ungleich mehr Literatur zu bieten, aber ein Bibliotheksbesuch hätte nicht nur Geld gekostet, sondern er war zudem alles andere als einfach: Man brauchte eine persönliche Empfehlung, um überhaupt eine Besucherkarte zu bekommen. In Manchester kannte sich Engels zudem gut in den Bibliotheken aus, Bücher waren einfach auszuleihen und auch Genossen im Vorort hatten Material, das man sichten konnte.
Was aber ist so spannend an den Exzerptheften? Wer es geschafft hat, über das Marx’sche Vorwort zum Kapital hinauszukommen, findet sich in der MEW-Auflage im Nachwort zur Zweitauflage von 1873 wieder. Marx schreibt dort: »Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren ... Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.« Die Darstellung im Kapital unterscheide sich demnach von der Forschungsweise. Während zig Bücher geschrieben und viele Köpfe zerbrochen wurden, was es mit dieser - dialektischen! - Darstellung im Kapital auf sich hat, wurde Marx‘ Forschungsprozess bisher ungleich wenig gewürdigt. Wann liest Marx was und warum? Welche Erkenntnisprozesse durchläuft er? Wie verändert sich seine Meinung von Autoren wie Ricardo und anderen, wie das begriffliche Selbstverständnis? Allein die vierte Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe, die die Exzerpte und Notizen umfasst, ist auf 32 Bände angelegt. Es gibt kaum eine Edition, die die Forschungen eines Autors derart transparent macht.
Exzerpieren ist eine Methode der Textarbeit, der Erschließung und Zusammenfassung, eine Technik der Wissensaneignung und -verarbeitung. Exzerpte und Zettelkästen werden zu den wichtigsten individuellen Gedächtnistechniken in einer Zeit, in der man für Bibliotheksbesuche weit reiste - und es weder Kopiergeräte noch nach Stichworten durchsuchbare PDF-Dateien oder E-Books gab. Für Marx war das Exzerpieren eine essenzielle Arbeit. Bücher waren nicht nur teuer, sondern für den »Berufsmigranten« Marx auch ein Ballast, schließlich musste er bis zu seiner Flucht nach London ständig umziehen. So findet sich im vorliegenden MEGA-Band auch ein Katalog der Bücher, auf die er zwischen 1849 und Anfang 1861 verzichten musste.
Bücher waren zwar in Bibliotheken zugänglich, aber nicht überall gab es das, was Marx brauchte. Bereits in Brüssel war ihm klar geworden, dass er die englischen Ökonomen studieren und die englische Arbeiterbewegung kennenlernen musste. In Manchester suchten Marx und Engels deshalb gleich drei Bibliotheken auf und auch Engels Privatbibliothek und Kontakte scheinen in den Wochen genutzt worden zu sein. Beides zeigt sich in den Manchester-Exzerpten. Marx liest und exzerpiert etwa die Sozialisten John Francis Bray und Robert Owen. In den ersten Heften werden bereits die Ökonomen William Petty, Thomas Tooke, Nassau William Senior, John Wade und John Ramsay MacCulloch rezipiert. Marx las also nicht nur Ökonomen, sondern auch Theoretiker der Arbeiterbewegung, Sozialisten, die nicht nur einen alternativen, meist auf genossenschaftlichen Prinzipien beruhenden Entwurf von Gesellschaft vorlegten, sondern auch das kapitalistische Wirtschaften verstehen wollten. Hierzu gehört etwa das Buch »Die Leiden der Arbeiterklasse und ihr Heilmittel« von John Francis Bray. Bray zählt wie etwa Thomas Hodgskin und andere zu denjenigen, die »der Theorie des Kapitals zuerst den Fehdehandschuh hinwarfen« - so Marx im Kapital.
Zentral ist für Bray der Klassenkampf um das Wertprodukt. Es ist ein Konflikt deshalb, weil die Eigentumsordnung Ungerechtigkeit bedinge und deshalb überwunden werden müsse - Reformen seien nicht zielführend. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, so Bray, widersprächen dem Prinzip leistungsgerechter Entlohnung. Kapital, als Anhäufung vergangener Arbeit, erlaube es, die Arbeiter zu bestehlen. Bray, der hier arbeitswerttheoretisch argumentiert, also dass Wert auf Arbeit zurückzuführen sei, geht davon aus, dass trotz formaler Gleichheit das Äquivalenzprinzip, der Tausch gleicher Arbeitsmengen, vom Kapital missachtet werde. Daher die Leiden der Arbeiterklasse. Das Heilmittel ist ein Gemeineigentum an Produktionsmitteln und gerechter Tausch. Geld ist für Bray - wie für die ökonomische Klassik - nichts als ein technisches Hilfsmittel.
Wie Marx dieses und andere Bücher aufsaugt, zeigt sich darin, dass er viel zitiert (und ins Deutsche übersetzt), wenig kommentiert. Marx ist erst dabei, sich in das wissenschaftliche Feld der Ökonomietheorie einzuarbeiten. So argumentiert er 1847 im Elend der Philosophie mit Ricardo gegen Proudhon - statt wie 20 Jahre später, im Kapital, die Prämissen von Smith bis Ricardo selbst zu hinterfragen und zu analysieren. Hierzu gehört etwa die Kritik an einem »prämonetären« Verständnis von Wert, für das die Existenz des Geldes unwesentlich ist und das keinem systematischen Zusammenhang von Warenproduktion und Geld nachgeht. Eine Prämisse, die sich bis in die heute herrschende Neoklassik fortsetzt. Auch dem Theorem des »ungleichen Tauschs«, dem u.a. Bray folgt, kann Marx erst im Kapital etwas Analytisches entgegensetzen, als er die Unterscheidung von Arbeit und Arbeitskraft und von konkreter und abstrakter Arbeit trifft.
Bis dahin sollten noch einige Jahre vergehen und auch viele Bibliotheksaufenthalte folgen. 1859 schreibt Marx rückblickend, dass er »ganz von vorn wieder« anfangen musste, sich »durch das neue Material kritisch durchzuarbeiten«, nachdem er 1850 nach seiner Flucht nach London das »ungeheure Material« im British Museum »angehäuft« vorfand. Auch hier entstand ein weiterer Berg an Exzerpten, auch Exzerpte »zweiter Ordnung«. Die seit Mitte der 1840er Jahre entstandenen Exzerpte dienen ihm als Grundlage für die weitere Forschung und Ausarbeitung seiner Kritik der politischen Ökonomie: In den sogenannten Theorien über den Mehrwert, den Manuskripten 1861-1863, kommt Marx nochmals auf Bray zurück und zitiert ihn ausführlich - aus seinen Exzerpten.
Man muss den Herausgebern der MEGA-Edition und den - teilweise bereits verstorbenen - Bearbeitern dankbar sein, das Material und die lesenswerte Einführung zugänglich gemacht zu haben. Die jetzt endlich veröffentlichten Exzerpte, die Londoner Hefte der 1850er und die vielen noch unveröffentlichten Exzerpte aus den 1860er und 1870er Jahre, die im Zuge der Arbeit am Kapital entstanden sind, ermöglichen, dem Marx’schen Forschungsprozess nachzugehen, wie er was las, wie er die Literatur rezipierte, wie er selbst Schüler war, lernte, sich den Kopf zerbrach. Vom Kapital aus betrachtet zeigt sich rückblickend, wie unter der Marx’schen Hand, im Rahmen einer intensiven Begriffsarbeit in den Exzerpten und Manuskripten, die Kritik der politischen Ökonomie entstand, die Darstellungsweise des Kapitals, die eben zugleich Analyse und Kritik der politischen Ökonomie werden sollte - und uns bis heute beschäftigt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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