Zwei plus Vier ist nicht gleich Eins
Eine Debatte im Auswärtigen Amt
Ja, wie peinlich ist das denn?! Wer nicht Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes ist, darf sich in dessen Bibliothek nicht umschauen, geschweige denn (welch Frevel!) ein Buch in die Hand nehmen. So blieb mein Wissensdurst ungestillt, wie viel vom bibliophilen Bestand des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (MfAA) im Haus am Werderschen Markt in Berlin Eingang gefunden hat. Ich entdeckte ein »Kleines Politisches Wörterbuch« und das »Wörterbuch zum sozialistischen Staat«, beide im Ostberliner Dietz-Verlag erschienen, konnte aber leider nicht mehr eruieren, ob auch die dreibändige Dokumentenedition des Geschichtsprofessors Günter Rosenfeld über die deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917 bis 1941 zum geistigen Fundus heutiger Diplomaten gehört. Denn: Der Staatsbürger hat der Anweisung eines Staatsbediensteten unverzüglich Folge zu leisten!
Das Auswärtige Amt lud in seinen »Lesehof« zur Podiumsdebatte »Deutschland - Europa - Russland: Von den 2+4-Verhandlugen bis in die Gegenwart«, eine Begleitveranstaltung zu der noch bis zum 2. April im »Lichthof« des Außenministeriums zu sehenden, gemeinsam mit der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur gestalteten Wanderausstellung über den Weg zur deutschen Einheit, die unter dem Label »2+4 = 1« firmiert. Das ist nicht nur nach Adam Ries falsch, sondern auch in realitas, ist doch Deutschland nach wie vor deutlich in Ost und West gespalten (ungleiche Löhne, ungleiche Renten, ungleiche Ämterverteilung, uneins in Werteprioritäten und Mentalitäten etc. pp.).
Moderator Michael Thumann von der »Zeit« würdigte das am 12. September 1990 von den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkrieges und den beiden deutschen Staaten signierte Vertragswerk als einen nicht nur die offene deutsche Frage lösendes Regelwerk, sondern auch als Fundament für »die neue europäische Friedensordnung«. Ex-Außenminister Markus Meckel, der den Akt der Unterzeichnung in Moskau nicht wahrnehmen konnte, da er zuvor mit den anderen sozialdemokratischen Ministern die Regierung de Maiziére verlassen hatte (»leider«, wie er rückblickend äußerte), bekannte, im Oktober 1989 als Mitbegründer der ostdeutschen SDP noch für einen Friedensvertrag votiert zu haben. Später habe er begriffen, dass man nicht mit 50 Staaten, den einstigen Kriegsgegnern, verhandeln konnte.
Der Staatsminister a.D. und Sonderbeauftragte der Bundesregierung für die OSZE Gernot Erler räumte ein, es habe innerhalb der SPD vor 25 Jahren »Irritationen« hinsichtlich des überstürzten Vereinigungskurses und »Anpassungsprobleme an die Geschwindigkeit der Geschichte« gegeben. Letztlich habe man jedoch die Einheit dann als »Glücksfall« betrachtet. Die schließliche Akzeptanz nicht nur Frankreichs und Großbritanniens, sondern vor allem der Sowjetunion zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und der damit verbundenen Zugehörigkeit Ostdeutschlands zur Europäischen Gemeinschaft und zur NATO sei nicht selbstverständlich gewesen. Sie erfolgte auf Grund langjährigen Vertrauens, das in Richtung Westen durch Adenauer und gen Osten durch Brandts Neue Ostpolitik begründet worden ist. Erler konzedierte, in bilateralen Gesprächen zwischen Bush senior und Gorbatschow sowie den Außenministern Baker und Schewerdnadse wurde von US-amerikanischer Seite zugesichert, die NATO werde sich keinen Inch nach Osten bewegen. Dies sei jedoch nirgends schriftlich fixiert worden. Meckel ergänzte, am 31. Mai 1990 wären Bush und Gorbatschow übereingekommen, jedes Land solle zukünftig selbst über die Bündniszugehörigkeit entscheiden.
Der ungarische Schriftsteller György Dalos erinnerte sich, dass sich schon 1988/89 die Budapester Regierung unter Gyla Horn von der Arbeiterpartei eine Aufnahme in die EG und die NATO wünschte. Der Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung von 2013 erklärte, er könne durchaus einige Reaktionen Putins verstehen. Durch den Wegfall des Cordon sanitaire an der Nord- und Westgrenze Russlands, sei Moskau umso mehr an einem solchen im Süden interessiert. Außerdem sei es wahrlich eine »Schnapsidee« von Chruschtschow gewesen, die Krim 1954 an die Ukraine zu verschenken. Erler hingegen kann Putin überhaupt nicht verstehen und fühlt sich »provoziert«, wenn ihm von russischer Seite vorgehalten werde, er müsse als ein Deutscher, der in den Genuss der Wiedervereinigung dank Moskau gekommen ist, auch die Wiedervereinigung zwischen Russland und der Krim akzeptieren. Der Journalist Michael Thumann pflichtete dem SPD-Politiker bei: Beide Vorgänge könne man nicht vergleichen, »sie sind so verschieden wie Äpfel und Birnen«.
Ein dramatisches Ende fand die ansonsten kaum kontroverse Diskussion, als sie fürs Publikum geöffnet wurde. Der Dramatiker Rolf Hochhuth (»Der Stellvertreter«) bekundete energisch seine Empörung über NATO-Manöver im Baltikum und auf dem Schwarzen Meer; das seien die eigentlichen »Provokationen«. Und, so fragte er rhetorisch: »Wie würden die Amerikaner reagieren, wenn Moskau Manöver auf und um Kuba abhalten würde?« Als Hochhuth sich mit Erlers Einwänden nicht zufriedengeben wollte, wurde die Debatte beendet. Noch beim Verlassen des Hauses schimpfte der Dichter über den »konservativen Geist« in eben jenem.
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