Ein Land - viele Völker und Herrscher
Andreas Kappeler lädt zu einem Streifzug durch die Geschichte der Ukraine - von der Kiewer Rus bis zum Maidan
Der österreichische Historiker Andreas Kappeler hat vor zwanzig Jahren die erste Gesamtdarstellung der ukrainischen Geschichte im deutschsprachigen Raum nach über 200 Jahren vorgelegt. Diese hat er nun um einen informativen Exkurs durch die jüngste Vergangenheit erweitert, in der freilich der aktuelle Ukrainekonflikt in den Mittelpunkt gerückt ist. Vorab: Es gelingt dem Autor, über tausendjährige Geschichte von der Kiewer Rus bis in die Gegenwart ebenso knapp wie übersichtlich darzustellen.
Das riesige Territorium, das die heutige Ukraine ausmacht - rund 600 000 Quadratkilometer mit etwa 48 Millionen Einwohnern -, war nur für kurze Zeit, und zwar in den Jahren 1918 bis 1920 und seit 1991, ein unabhängiger Staat. Insofern ist die Redensart von der tausendjährigen staatlichen Tradition der Ukraine nur eine nationalistische Phrase. Das Gebiet teilten sich über Jahrhunderte die Nachbarn: Galizier, Wolhynier, Litauer und Polen, die Habsburger Kaiser und der russische Zar. Seit dem 14. Jahrhundert galten die nordöstlichen Teile als »Kleinrussland«, das von verschiedenen Ethnien bevölkert wurde, darunter Polen, Armenier, Griechen, Roma und Tataren. Das Land war nicht nur polyethnisch, sondern auch multireligiös. Hier lebten Juden, russisch-orthodoxe und römisch-katholische Christen sowie Unierte, d. h. Angehörige der aus der Wiedervereinigung (1595) von der ukrainisch-orthodoxen und katholischen Glaubensgemeinschaft hervorgegangenen Kirche.
Die Vielfalt der kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen ist zugleich für die heutigen Konflikte verantwortlich. Im Nordwesten herrschte der katholische, polnisch-litauische Adel. Er assimilierte die einheimische Elite kulturell und religiös, womit die Ukraine »den größten Teil ihrer politischen und sozialen Elite verlor«, was sich zum ersten Grundproblem auswuchs: Der polnisch-litauische Adel machte Juden zu Pächtern, Steuereinnehmern und Verwaltern ukrainischen Grundbesitzes. Damit wurden die Juden von den ehemals freien ukrainischen Bauern, die zu Erbuntertanen absanken und als russisch-orthodoxe Gläubige obendrein diskriminiert wurden, als Feinde angesehen. Viele ukrainische Bauern versuchten der Erbuntertänigkeit und den Frondiensten zu entfliehen, indem sie nach Osten in die russisch beherrschte Ukraine flohen, wo sie zumindest religiös nicht unterdrückt wurden. So entwickelte sich über die Jahrhunderte ein weiteres die Ukraine prägendes Dilemma: der Gegensatz zwischen dem Nordwesten einerseits sowie dem Osten und Süden andererseits.
Links und rechts des Dnjepr siedelten bis zur Steppengrenze seit dem 15. Jahrhundert Kosaken (turko-tatarische Krieger), die vom Fischfang, der Jagd und der Viehzucht lebten. Ihr politisches Leben war geprägt von einer »eigentümlichen Mischung aus zentralistisch-militärischer Disziplin und demokratischer Verfassung« mit egalitären Zügen, die der übrigen Ukrainie - drittes Grundproblem - fremd blieben. Das kosakische Hetmanat (von »Hetman« = auf Zeit gewählter Anführer) unter Chmel’nyc’kyj (1595-1657) bildete einen Gegenpol zu Adelsherrschaft und damit verbundener Leibeigenschaft.
Allerdings bediente sich auch der polnische Adel gern kosakischer Krieger gegen Feinde aus dem Süden und dem Osten. Insgesamt bot das Hetmanat den Bauern am linken Dnjepr-Ufer bessere Lebenschancen als die Adelsherrschaft im Westen und Norden.Seit dem 18. und verstärkt im 19. und 20. Jahrhundert geriet die Ukraine in den Zangengriff der Repression durch die Habsburger Monarchie und das Zarenreich. Insbesondere in den industrialisierten Gegenden stellten Nichtukrainer, hauptsächlich Russen, die Bevölkerungsmehrheit, weshalb die Ost- und Südukraine auch »Neurussland« hieß. Es wurde für das Zarenreich zum wichtigsten Rohstofflieferanten (Zucker, Weizen, Tabak, Kohle, Eisen).
Kappeler beschreibt das Schicksal der Ukrainer bis zum Genozidversuch Stalins, der sie fast verhungern ließ durch seine forcierte Industrialisierung auf Kosten der Landbevölkerung, und dem Terror unter deutsch-faschistischer Besatzung ebenso sachkundig wie umsichtig. Dem gegenüber wirkt seine Darstellung der jüngsten Konflikte um die Krim und die Ostukraine konventionell-apologetisch. Das korrupte Zusammenspiel von Politik und Oligarchenmacht wird verharmlosend umschrieben: »Die Regierung wurde von den Oligarchen unterstützt und sicherte im Gegenzug deren Interessen. Da die Oligarchen miteinander konkurrieren, ergab sich daraus … ein politischer Pluralismus in einem labilen Gleichgewicht.« Ebenso blauäugig erscheint Kappelers Urteil vom »Sieg des Maidan«, in dem der Anteil der Propaganda westlicher Medien verschwiegen wird.
Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. C.H. Beck, Münhen. 405 S., br., 14,95 €.
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