Zwangsarbeit für den Feind
Die nd-Leserwanderung führt an dem ehemaligen Durchgangslager Wilhelmshagen vorbei
Vom Arbeiterdurchgangslager Berlin Ost ist fast nichts mehr übrig. Zur Rampe führt keine Schiene mehr. Sie ist im Wald kaum noch zu entdecken. Auch Überreste der Fundamente von zehn Baracken fallen nicht besonders auf, da sie von Moos bedeckt sind. Wären da nicht Hinweispfeile und eine Tafel, dann wäre der geschichtsträchtige Ort sehr schwer zu finden. Hier sind zwischen 1942 und 1945 Zwangsarbeiter angekommen und als Zwangsarbeiter auf Rüstungsbetriebe in Berlin und Brandenburg verteilt worden. Hunderttausende Menschen sind es gewesen, die mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt oder einfach verschleppt worden sind. Fast täglich trafen Züge an der Rampe ein, die überwiegend Frauen und Kinder aus Polen und den besetzten Gebieten der Sowjetunion brachten, aber auch Männer aus Frankreich und Belgien.
Die nd-Leserwanderung, die am 19. April von 8 bis 11 Uhr am S-Bahnhof Wilhelmshagen startet, führt schon wenige Hundert Meter weiter direkt vorbei an den Überresten von Rampe und Barackenlager. Ziel der wahlweise 9 oder 14 Kilometer langen Wanderung ist das Hotel Müggelsee Berlin.
Nach dem Scheitern der Blitzkriegsstrategie wollten Propagandaminister Joseph Goebbels und Rüstungsminister Albert Speer unter dem Stichwort totaler Kriegseinsatz die deutschen Frauen in die Waffen- und Munitionsfabriken zwingen. Adolf Hitler und Fritz Sauckel, der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, glaubten jedoch, das benötigte Personal aus den gesetzten Gebieten herbeischaffen zu können. Sauckel verantwortete die Verschleppung von 8,4 Millionen Arbeitskräften für Industrie und Landwirtschaft. Er wurde im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet. In Berlin hat es in der Nazizeit 3000 Zwangsarbeiterlager gegeben. Als Sammelstellen für Berlin und Brandenburg dienten acht Baracken in Rehbrücke und 20 Baracken in Wilhelmshagen.
Das Eintreffen in dem eingezäunten Durchgangslager in Wilhelmshagen »war für die Ankommenden eine traumatische Erfahrung«, berichtet Leonore Scholze-Irrlitz. Gemeinsam mit Karoline Noack gab sie das Buch »Arbeit für den Feind« heraus, dass über den Alltag der Zwangsarbeiter in Berlin und Brandenburg informiert. Polnische und sowjetische Menschen seien in Wilhelmshagen abgetrennt untergebracht gewesen und einer erniedrigenden Entlausungsprozedur unterzogen worden, schildert Scholze-Irrlitz die Verhältnisse. Die Holzpritschen reichten nicht für alle aus »und auch die Nahrungsmittel waren unzureichend«.
Wie auf einem Viehmarkt seien sie in Wilhelmshagen an die Firmen verteilt worden, erinnerte sich später der Franzose Raymond Baucher. Er hatte als Jurist in der Rechtsabteilung der Stadtverwaltung von Paris gearbeitet und wurde im Sommer 1944 als 23-Jähriger zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt. Hier musste er bei der Admos GmbH als Dreher Kugellager für Motoren der Luftwaffe, des Heeres und der Marine produzieren. Täglich außer sonntags musste Baucher um 5 Uhr früh aufstehen und zur Arbeit gehen. Eine Schicht dauerte zwölf Stunden. Baucher und seine Leidensgenossen versuchten, so wenig Teile wie möglich fertigzustellen, ohne in den Verdacht der Sabotage zu geraten. Am 22. April 1945 wurde Baucher von sowjetischen Truppen befreit. Er kehrte zurück nach Paris, schreibt Daniela Geppert, die für die Stiftung Topographie des Terrors Kurzbiografien von Zwangsarbeitern zusammenstellte.
Dazu gehört auch die Kurzbiografie des Italieners Augosto Manechi. Der zur Armee eingezogene Mechaniker war auf der Insel Elba stationiert. Nach dem Sturz von Diktator Benito Mussolini und dem Ausscheiden Süditaliens aus der faschistischen Achse wurde Manechi von Wehrmachtssoldaten gefangen genommen und im Viehwaggon nach Deutschland gebracht. In Wilhelms- hagen wurde er der Firma Admos zugeteilt, wo er wie der Franzose Baucher als Dreher arbeiten sollte. Im März 1945 floh Manechi mit einem alten Fahrrad. Kurz hinter der Schweizer Grenze wurde er von einer Patrouille aufgegriffen, an die Gestapo übergeben und für 56 Tage in ein Arbeitserziehungslager gesteckt. In solchen Straflagern herrschten Bedingungen, die denen in Konzentrationslager ähnelten. Manechi überlebte. US-amerikanische Truppen retteten ihn im Mai 1945.
Durch polnische Einheiten befreit wurde die polnische Zwangsarbeiterin Kazimiera Kosonowska. Sie war im Lager Wilhelmshagen für das Gummiwerk Fr. M. Daubitz ausgewählt worden. Sie kehrte nach Polen zurück, heiratete, brachte einen Sohn und eine Tochter zur Welt.
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