«Auf der anderen Seite das gleichgültige Mittelmeer»

«Die vierzig Tage des Musa Dagh» von Franz Werfel

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Bücher haben ihre Schicksale, sagt ein lateinisches Sprichwort. Das lässt sich sowohl auf den Gegenstand - ein lebensbegleitendes Erbstück usw. - als auch auf den Inhalt beziehen. Letzteres gilt in besonderer Weise für Franz Werfels Roman «Die vierzig Tage des Musa Dagh»: erschienen, verboten, weit verbreitet, viel gelesen, fast vergessen, wieder zu entdecken.

Franz Werfel hatte bei einer Nahostreise im Jahr 1929 die armenischen Flüchtlingslager in Damaskus gesehen, hatte von der Vertreibung und dem Widerstand der Armenier 1915/1916 erfahren und war so erschüttert gewesen, dass er dem geschundenen und tapferen Volk ein Denkmal setzen wollte. Dafür betrieb er zahlreiche Quellenstudien. 1933 in Wien erschienen, wurde der Roman sofort in Deutschland verboten, begründete aber nur wenig später von Amerika aus Werfels Weltruhm. Das Buch über den Völkermord an den Armeniern wurde vor allem als Voraussicht der Judenvernichtung gelesen. Das Wiederentdecken bestätigt diese Lesart als einen Teilaspekt, aber eben nur einen.

Wie begründet sich dieses Auf und Ab in der Rezeption? Der Blick der westlichen Welt ging bald in andere Richtungen, zudem wird das rund 900 Seiten umfassende Epos sehr breit, zuweilen weitschweifig und traditionell-romanhaft erzählt. Um 1990 wurde es im deutschsprachigen Raum schließlich durch Edgar Hilsenraths bitterböses «Märchen vom letzten Gedanken» von seinem Platz als der Armenier-Roman verdrängt. Darin waren sich viele Kritiker und Leser einig. Auch ich war dieser Meinung. Werfel hatte vor der Shoa, Hilsenrath mit dem Wissen danach geschrieben. Aber: Man sollte nicht vorschnell werten!

Im August 2015 jährt sich zum hundertsten Mal das Geschehen, das sich vierzig Tage lang auf dem Musa Dagh, dem Mosesberg, nahe der syrischen Küste zutrug. Vom «Schicksal» des armenischen Volkes sprechen wir, wie es Werfel noch tat, jetzt nicht mehr, sondern eindeutig von Massenmord und systematischer Vernichtung. Die hatte am 24. April 1915 in Istanbul mit dem Abtransport der armenischen Eliten begonnen. Veranstaltungen (wie Werner Kroesingers Inszenierung «Musa Dagh - Tage des Widerstands» im April« im Berliner Maxim Gorki Theater) erinnern an die Tragödie.

Ausgerechnet jetzt erfährt der Werfel-Roman schaurige Aktualität: »Die Stadt wurde von Tag zu Tag leerer, während sich die Landstraße mit langen Menschenschlangen füllte ...« Eine »schleichende Stille« liegt über den »Todeszügen«, und »dort im Norden, Osten, Süden« bis nach Aleppo, ... nein, bis Mossul ... die unabwendbare Vernichtung. Millionen von Moslems, die bald nur mehr ein einziges Ziel haben würden, das freche Armeniernest auf dem Musa Dagh auszuräuchern! Auf der anderen Seile das gleichgültige Mittelmeer ... » Wann geschieht das eigentlich? Vor hundert Jahren, gestern, heute, morgen?

Nun zum Inhalt! Der westlich gebildete Armenier Gabriel Bagradian ist seit langer Zeit in Paris erstmals wieder in sein Heimatdorf Yoghonoluk gekommen, zusammen mit seiner französischen Frau Juliette und dem vierzehnjährigen Sohn Stephan. Es gilt, Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Seine Familie, vor allem der Großvater, waren angesehene Leute und Wohltäter in dem idyllischen Siebendörfer-Tal unter dem Musa Dagh gewesen. Hier leben armenische Weinbauern und Kunsthandwerker. Jetzt aber kommt für diesen Landstrich der Austreibungsbefehl.

Gabriel Bagradian, militärisch gut ausgebildet ist, beschließt, sich dem nicht zu unterwerfen. Schon hat er detaillierte Pläne gemacht, und nun organisiert er zusammen mit dem orthodoxen Priester Ter Haigasun und dem protestantischen Pfarrer Aram Tomasian den Widerstand.

Am letzten Julitag des Jahres 1915 ziehen fünftausend Armenier aus den Dörfern auf die Hochflüche des Bergmassivs und verschanzen sich in einem großen, gut organisierten Lager. Durch ihren todesmutigen Überlebenswillen und dank der Klugheit Gabriels können sie drei Angriffe der militärisch weit überlegenen türkischen Truppen abwehren. Vierzig Tage später, durch Hunger und Seuchen zermürbt, ist das Volk auf dem Berg am Ende. Da kommt in letzter Minute die Rettung durch ein französisches Kriegsschiff.

Franz Werfel hat im Roman zahlreiche Charaktere erschaffen. Er zeichnet ein traumhaftes Bild dieser Landschaft und der Welt, die nun untergeht.und mit den Kirchenglocken, einem alten Ritus folgend, begraben wird. Biblische Anklänge enthält das Epos durch symbolhafte Handlungen, das Opfer von Gabriels Sohn Stephan, lodernde Feuerflammen, die Vierzig-Zahl der Wüstenwanderung, archaische Elemente durch einen «Chor» der Klageweiber.

Eins noch erscheint beim Wiederlesen wichtig: Es geht um historisches Geschehen, nicht um generelles Verdammen einer anderen Kultur oder Religion. Außer den «Göttern», dem eitlen Enver Pascha und seinem Kriegstreiber Talaat Pascha, gibt es den würdigen Alttürken Agha Rifaat Bereker, der auf Bitten von Johannes Lepsius die Widerständigen zu unterstützen versucht.

Ersetzen wir nun das Wort «Schicksal» durch «Geschick» im mehrfachen Wortsinn! Gabriel Bagradian wird vom «abstrakten» West-Menschen zum Retter seines Volkes, ein von innerer und höherer Macht («dem Unerklärlichen in uns») Getriebener und Geschickter.

Neu als Hörspiel: «Die vierzig Tage des Musa Dagh. der hörverlag, 3 CD, 17,99 €.

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