Lieber tot als zurück nach Bulgarien
Debatte nach Suizidversuch eines Flüchtlings in Lingen / Grüne Landespolitiker kritisieren Einstufung als »sicheren Drittstaat«
An einem Samstagabend im April übergießt sich der Marokkaner Hamid R. auf einer Kreuzung in Lingen im niedersächsischen Emsland mit Benzin und zündet sich an. Gerade noch kann der Schwerverletzte gerettet werden. Er wollte lieber sterben als nach Bulgarien zurück. Von dort war er nach Niedersachsen gekommen. Und dahin sollte er gemäß »Dublin III« kurz darauf »rückgeführt« werden: Flüchtlinge müssen den Asylantrag im ersten Land stellen, das sie in Europa erreichen.
Die niedersächsischen Grünen-Abgeordneten Filiz Polat und Volker Bajus hakten nun per Anfrage zu dem Fall nach. Die Antwort macht deutlich, wie sehr die Ansichten über »sichere Drittstaaten« auseinandergehen: In Bulgarien sei eine unmenschliche Behandlung von Flüchtlingen bis hin zur Folter zu verzeichnen, meinen Polat und Bajus auf Basis der Berichte von Menschenrechtsgruppen. Das Innenministerium sieht zwar auch »Handlungsbedarf«, um »den angestrebten europäischen Standard zu erreichen«. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) habe aber keine Hinweise auf unmenschliche Behandlung in jenem Land.
Kai Weber vom Flüchtlingsrat Niedersachsen nennt die »kritiklose Übernahme der Position der Bundesregierung, was die Einschätzung der Lage in Bulgarien angeht«, gegenüber »nd« fragwürdig. Ohne auf umfangreiche Dokumentationen über Verstöße einzugehen, wiederhole man das Credo aus Berlin.
Das Ministerium signalisiert, man hätte gern geholfen, aber Dublin III habe dies verboten. »In so einem Fall hat das Bundesamt die Hoheit«, bedauert auch Polat, und dieses pflege eben eine andere Flüchtlingspolitik als das rot-grün regierte Niedersachsen.
Zu Recht verweise die Landesregierung auf Dublin III, bestätigt Weber. Auch sei Hannover nicht verantwortlich »für die perfide Strategie des BAMF«. Es habe zwar inzwischen auf eine Abschiebung nach Bulgarien verzichtet, werte den Asylantrag Hamid Rs. aber als Zweit- oder Folgeantrag. Das habe zur Folge, »dass die gesamte Fluchtgeschichte des Mannes in Marokko nicht in einem Asylverfahren gewürdigt wird«. Dies werde juristisch anzufechten sein.
Die Abschiebung war vom BAMF angeordnet worden, weil »keine außergewöhnlichen humanitären Gründe« dagegen gestanden hätten. Ein Verwaltungsgericht hatte das bestätigt. Ärztliche Atteste über den Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung änderten nichts.
Nach der versuchten Selbstverbrennung war in der Wohnung des Flüchtlings eine Art Abschiedsbrief gefunden worden. Es solle nun geklärt werden, sagt Polat gegenüber »nd«, ob eine Zweitschrift dieses Papiers bei einer Behörde bekannt gewesen sei - vor dem Griff zur Benzinflasche.
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