»Wenn wir Musik machen, gibt's keine Unterschiede«

Flüchtlinge vom Oranienplatz gründeten die Band »refugees and friends«

  • Tim Lüddemann
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Protest auf dem Oranienplatz ist lange vorbei. Doch viele Flüchtlinge arbeiten weiter in kleinen Projekten an einer Veränderung der Verhältnisse. Einer von ihnen ist Kokou.

Der Protest auf dem Oranienplatz ist vorbei, der Kampf der Flüchtlinge in Berlin scheint gescheitert. Doch viele Flüchtlinge arbeiten weiter in kleinen Projekten an einer Veränderung der Verhältnisse. Einer von ihnen ist Kokou, der mit einer Band versucht, die Vision einer Gesellschaft ohne Schranken heute schon zu leben und seine Freiheit wiederzufinden.

Kokou ist ein ruhiger Mensch, auch wenn um ihn herum alles wild durcheinander läuft. In einem Kellerstudio in Friedrichshain trifft sich seine Band. Die »refugees and friends« versuchen sich bei einer ihrer Proben, die Besetzung wechselt fast im halbstündlichen Takt. Kokou bemüht sich, die Übersicht zu behalten, schlägt Songs vor, führt Neuankömmlinge in die Band ein und arrangiert die Instrumente. Er selbst steht abwechselnd am Mikrofon oder sitzt am Schlagzeug, je nachdem, was gerade gebraucht wird. Er steckt seine gesamte Zeit in das Projekt und möchte so der Gesellschaft ein anderes Bild von Flüchtlingen zeigen. »Manche Leute glauben, wir sind alle Kriminelle oder wir leben alle im Wald«, sagt er kopfschüttelnd. »Wir zeigen ihnen mit unserer Musik, was wir alles können!« Kokou möchte mit der Musik auch die Freiheit finden, die er verloren hat, seit seine Flucht nach Deutschland begann.

2003 war Kokou nach der damaligen Präsidentenwahl aus Togo geflohen. Als Anhänger der unterdrückten Oppositionspartei UFC hatte er um sein Leben fürchten müssen. »Togo ist keine Demokratie mehr.«, sagt er. »Es ist eine Diktatur.« Viele seiner Freunde seien damals von Regierungssoldaten festgenommen und sogar erschossen worden.

Nachdem er nach Deutschland gekommen war, musste er acht Jahr in einer Flüchtlingsunterkunft verbringen. Acht Jahre, in denen er nicht arbeiten durfte, keine eigene Wohnung bekam und immer unter der Bevormundung der Heimleitung stand. Kokou erzählt, dass die Unterkünfte ähnlich wie Gefängnisse seien. Deshalb bezeichnet er sie als Lager. »Ich kenne viele, die das Lager psychisch krank gemacht hat, aber sie bekommen dort keine Hilfe.« Die Unterkünfte würden die Flüchtlinge isolieren und ein Leben in Freiheit unmöglich machen.

2012 hatte sich Kokou deshalb dem Flüchtlingsmarsch angeschlossen. Er war mit dabei, als die Flüchtlinge in Berlin eintrafen und das Camp auf dem Oranienplatz errichtet wurde. Die Flüchtlinge wollten ihre Anliegen in die Gesellschaft tragen und zum Thema machen. »Heute reden alle über die Residenzpflicht, das haben auch wir erreicht«, erzählt er. Doch mit der Zeit taten sich immer mehr Konflikte auf. Eine Gruppe wollte den politischen Kampf fortführen, andere beschränkten sich auf ihr persönliches Bleiberecht. In dieser aufgeladenen Stimmung wollte Kokou einen Gegenpol setzen. »Musik weckt die Talente, die in den Menschen schlummern. So schaffen wir Harmonie zwischen den Menschen, und ohne Harmonie gibt es keine Freiheit.« Deshalb gründete er die Band vom Oranienplatz.

Zwei Jahre später lebt dieses Konzept ohne das Camp weiter fort. Flüchtlinge und Nicht-Flüchtlinge spielen gemeinsam und gleichberechtigt. Jeder hat eine andere Lebensgeschichte und einen eigenen Weg, wie er zur Band »refugees and friends« gekommen ist. Bei jeder Probe ist jemand Neues dabei, hat eigene Ideen und Musikstile und bringt seine eigene Geschichte mit. Und doch spielen sie alle gemeinsam. So erzählt einer, wie er mit seinem Gitarrenkoffer in der Hand von Kokou in der U-Bahn angesprochen und eingeladen wurde. Der Andere ist wie Kokou seit Jahren in Deutschland unterwegs auf der Suche nach einem Ankommen und damit einem Ende seiner Flucht.

Im Februar gab die Band ihr erstes Konzert. Damals bestand die Besetzung aus einer türkisch-deutschen Sängerin, einem israelischen und einem deutschen Gitarristen sowie einem Musiker aus England. Auf dem Konzert auf dem Oranienplatz spielten sie erneut, dort sang Kokou mit einem anderen Flüchtling zusammen »Imagine« von John Lennon. Die Hautfarbe oder die Herkunft spielen keine Rolle, ob auf der Bühne oder unter den Besuchern auf der Tanzfläche. Genauso vielfältig wie ihre Vision von der Welt ist, so vielfältig und wechselnd sind die Mitglieder der Band. »Wenn wir Musik machen, zählen die Unterschiede in der Gesellschaft nicht mehr«, sagt Kokou. Auch wenn es nur für diesen Moment ist. Kokou und die anderen Flüchtlinge können in diesem Moment all den Stress vergessen, die sie wegen ihrer Flucht und in ihrem Kampf für ihre Freiheit haben.

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