Nach dem Beben ins Bordell
Der Verein Maiti Nepal betreut Mädchen und junge Frauen, die in Indien zur Prostitution gezwungen wurden
»Sie haben unvorstellbare Dinge mit mir gemacht. Bis zu 15 Männer pro Tag.« Shilpa hat Tränen in den Augen als sie fast flüsternd von dem berichtet, was ihr in einem Bordell in der indischen Metropole Pune angetan wurde. Unter dem Tisch greift die 18-jährige Nepalesin immer wieder nach der Hand von Rajani Gurung. Seit einem Jahr betreut die Sozialarbeiterin Shilpa im Wohnheim des Vereins Maiti Nepal in Kathmandu. Bis zu 15 000 Mädchen werden nach Schätzungen der Hilfsorganisation jedes Jahr aus dem armen Himalaya-Land illegal außer Landes gebracht. Nach dem verheerenden Erdbeben könnte die Zahl sogar noch steigen. Viele der meist noch minderjährigen Mädchen werden im Nachbarland Indien zur Prostitution gezwungen.
»Für diese Schweine war ich nur ein Stück Fleisch.« Wenn Shilpa, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte, diesen abgedroschenen Satz sagt, klingt er nicht abgedroschen. Jede Silbe drückt den Ekel aus, den sie vor ihren Freiern empfunden hat. Immer noch wird sie von Unterleibsschmerzen gequält, immer noch zuckt sie zusammen, wenn sie berührt wird.
Der Internationale Hurentag am 2. April ist ein inoffizieller Gedenktag, an dem Prostituierte auf ihre Diskriminierung und ihre oftmals ausbeuterischen Lebens- und Arbeitsbedingungen aufmerksam machen.
Seit Anfang der 1970er Jahre wurden Huren in Frankreich durch polizeiliche Repressalien immer mehr dazu gezwungen, im Verborgenen zu arbeiten. Da der Schutz durch die Öffentlichkeit entfiel, nahmen Gewalttaten zu. Als zwei Prostituierte ermordet wurden und die französische Regierung sich dennoch weigerte, die Situation der Huren zu verbessern, besetzten am 2. Juni 1975 mehr als 100 Prostituierte die Saint-Nizier Kirche in Lyon und traten in den Streik. Nach acht Tagen wurde die Kirche von der Polizei geräumt. Die Kirchenbesetzung gilt als Beginn der Hurenrechtsbewegung.
Veranstaltungen, Termine und Aktionen zum Hurentag in Deutschland und zum Kampf um bessere Arbeitsbedingungen für Prostituierte finden Sie unter www.berufsverband-sexarbeit.de. Phh
Als das zierliche Mädchen vor zwei Jahren in einem abgelegenen Dorf im Norden Nepals das Vieh ihrer Familie hütete, erzählten fremde Männer ihr, dass sie in Indien als Hausangestellte bis zu 6000 indische Rupien (umgerechnet rund 83 Euro) verdienen könne. Für Shilpa, die nur vier Jahre zur Schule gegangen war, war das unglaublich viel Geld. Sie ging mit. Wenige Wochen später wurde das Mädchen, das noch nie einem Mann nahe gekommen war, gezwungen, sich zu verkaufen. Ein knappes Jahr später wurde die damals noch Minderjährige von der indischen Polizei befreit. Seitdem lebt sie im Maiti-Nepal-Wohnheim in Kathmandu.
Weil die deutsche Sonja-Kill-Stiftung für Maiti Nepal vor einigen Jahren erdbebensichere Wohnhäuser baute, überlebten alle Bewohnerinnen das verheerende Beben Ende April. Doch Vereinsgründerin Anuradha Koirala befürchtet, dass die Katastrophe das Problem des Mädchenhandels weiter verschärfen könnte. Koirala: »Die Zahl der bei Maiti Nepal als vermisst gemeldeten Mädchen ist seit dem Erdbeben stark gestiegen. Die skrupellosen Menschenhändler geben sich in den betroffenen Gebieten oft als Mitarbeiter von Hilfsorganisationen aus. Sie versprechen den verzweifelten Eltern, ihre Töchter in die Obhut internationaler Organisationen zu bringen. Stattdessen landen sie oft in indischen Bordellen.«
Einer der Männer, der Shilpa damals nach Indien brachte, sitzt mittlerweile im Gefängnis. Als sie das erzählt, lächelt sie erstmals. Doch dann verfinstert sich ihre Miene sofort wieder. »Ich möchte, dass er gehängt wird«, sagt das Mädchen, das ihrem Gesprächspartner nur selten in die Augen blickt und sich nicht vorstellen kann, je wieder einem Mann zu vertrauen. Maiti Nepal unterstützt Shilpa derzeit im Prozess gegen ihren ehemaligen Peiniger. Auch wenn Anklägerinnen wie sie selbst im Gerichtssaal eingeschüchtert werden und Morddrohungen erhalten, konnte Maiti Nepal insgesamt schon rund 1200 Schleuser hinter Gitter bringen.
Denn Shilpa ist kein Einzelfall. Über 5000 Mädchen und Frauen hat Maiti Nepal nach eigenen Angaben in den letzten 22 Jahren zusammen mit Privatdetektiven und Partnerorganisationen aus indischen Bordellen befreit. In Nepal gelten Töchter als Bürde, weil für sie oft eine hohe Mitgift gezahlt werden muss. In der indischen Sexindustrie hingegen sind die Mädchen mit den mongolischen Geschichtszügen und der hellen Haut sehr begehrt. Manche der geschmuggelten Mädchen sind so jung, dass ihnen nach Angaben von Maiti Nepal in indischen Bordellen sogar Hormone gespritzt werden, damit sie schneller in die Pubertät kommen und »einsetzbar« sind.
Die meist ungebildeten Mädchen gelten als gutgläubig, unterwürfig und duldsam. Dass ihnen von Geburt an eingebläut wurde, sie seien weniger wert als ihre Brüder und müssten Männern stets zu Diensten sein, macht sie in den Rotlichtvierteln noch beliebter. »Falls sie dennoch aufmucken, werden sie unter Drogen gesetzt, geschlagen, mit glühenden Eisen verbrannt, mit Elektroschocks gefoltert oder mit Massenvergewaltigungen wieder gefügig gemacht«, berichtet Anuradha Koirala. Die oft gefälschten Reisepässe, die die Mädchen meist älter machen als sie tatsächlich sind, nehmen die Schleuser ihnen ohnehin untermittelbar nach dem Grenzübertritt ab. Abgesehen davon fehlt den Mädchen das Geld für die Flucht.
Je nach Aussehen und Alter (je jünger, desto teurer) werden die Mädchen meist für 80 000 bis 200 000 nepalesische Rupien (umgerechnet rund 700 bis 1700 Euro) verkauft. Dafür müssen sie täglich bis zu 15 Männer befriedigen. »Selbst wenn die Freier umgerechnet weniger als zwei Dollar zahlen, hat die Investition sich schnell amortisiert. Einige Bordellbetreiber sind so reich geworden, aber die Mädchen kriegen von dem dreckigen Geld nichts ab«, schimpft Anuradha Koirala. Denn die Bordellbetreiber stellen den Zwangsprostituierten neben ihrer »Anschaffung« auch die Kosten für Anreise, Arbeits- und Schlafplatz, Verpflegung, Kleidung, Kosmetik und sogar Kondome in Rechnung. Die Mädchen, die es zurück in ihre Heimat schaffen, sind meist genauso arm wie zuvor.
Begonnen hat die Geschichte von Maiti Nepal mit Gita. Vor 25 Jahren kehrte die ausgemergelte Frau aus einem indischen Bordell in ihre Heimat zurück. Sie war eine der ersten an Aids erkrankten Frauen in Nepal. »Sie wurde wie ein Tier im Zoo behandelt. Die Leute sind angereist, um sie anzustarren«, erzählt Anuradha Koirala. Weil ihre Familie sie nicht mehr aufnehmen wollte, brachte Koirala sie bei sich unter. Schnell sprach sich der Name der barmherzigen Lehrerin bei anderen HIV-positiven Nepalesinnen rum, die aus indischen Bordellen verstoßen worden waren, nachdem ihre Erkrankung sich nicht mehr verbergen ließ. Als Koiralas Haus bereits völlig überfüllt war, doch der Strom der hilfesuchenden Frauen nicht abriss, gab die Mutter eines Sohnes und einer Tochter ihren Job als Lehrerin auf und gründete die Hilfsorganisation, die auch ein Hospiz unterhält, in dem aidskranken Frauen ein würdevoller Tod ermöglicht werden soll.
Bei Maiti Nepal gehen die ehemaligen Prostituierten zusammen mit Waisen- und Straßenkindern zur Schule und werden zu Bäckerinnen, Schneiderinnen, Verkäuferinnen, Friseurinnen und Hotelfachfrauen ausgebildet, erlernen aber auch typische Männerberufe wie Wächter und Tischler. 35 ehemalige Maiti-Nepal-Mädchen haben mittlerweile einen Universitätsabschluss. Rund drei Viertel aller Mädchen können wieder bei ihren Familien untergebracht werden.
Doch nicht alle wollen zu ihren Familien zurückkehren. Rund 85 ehemalige Prostituierte leben derzeit im Maiti-Nepal-Heim in Kathmandu. Die meisten von Anuradha Koiralas »Töchtern« sind zwischen zwölf und 18 Jahre alt. Doch im Wohnheim, in dem die Rückkehrerinnen medizinisch und psychotherapeutisch betreut werden, ist auch immer wieder Babygeschrei zu hören. Manchmal fällt es den Müttern, die selbst oft noch Kinder sind, schwer, die Kinder der Männer, die sie brutal missbrauchten, zu lieben.
Nicht zuletzt weil die Aufnahmekapazitäten von Maiti Nepal so gut wie erschöpft sind, setzt die Organisation auch auf Prävention. Zusammen mit Polizisten kontrollieren Mitarbeiterinnen am Thankot-Checkpoint Fahrzeuge, die Kathmandu in Richtung Indien verlassen. Rund 800 Busse werden dort jeden Tag überprüft, fast jeden Tag werden Menschenhändler erwischt. In ihrer gelb-violetten Uniform steigt Roshni (Name geändert) an der Straßensperre in einen vollbesetzten Bus und mustert die Passagiere. »Ich bin selbst in so einem Bus außer Landes gebracht worden. Ich erkenne die Schleuser und ihre Opfer auf den ersten Blick«, sagt die 20-Jährige. Aus Angst vor Rache möchte auch sie ihren wahren Namen nicht verraten. Denn zusammen mit Maiti Nepal versucht sie derzeit, ihre Schleuser hinter Gitter zu bringen. Die hatten ihr versprochen, dass sie in Indien als Hausangestellte viel Geld verdienen könne. Stattdessen musste sie in einem Bordell jeden Tag vier bis fünf Freier bedienen. Bezahlt wurde sie dafür nicht. Nach sieben Monaten wurde sie befreit. Roshni: »Wenn ich die Mädchen am Checkpoint aufhalte, sind sie sauer, denn sie denken, dass ich ihnen die Möglichkeit nehme, viel Geld zu verdienen. Sie können ja nicht wissen, dass ich sie nur davor bewahre, das Gleiche zu erleben, was ich durchmachen musste.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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