»Klug werden« bei den Pietisten
Der Evangelische Kirchentag in Stuttgart überspielt eine neue protestantische Spaltung
»Schaffe, schaffe, Häusle baue« - als Max Weber seinen Essay über die »protestantische Ethik« als mentalen Urgrund eines »Geistes des Kapitalismus« schrieb, mag der Soziologe den württembergischen Pietismus im Auge gehabt haben: Weltlicher Genuss war verpönt, Entsagung und Arbeit gottgefällig - und die wörtlich zu nehmende Bibel leitete eine sittenstrenge Lebensführung an.
110 Jahre später hat sich der Protestantismus gewandelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging man einen Reformweg. Man lernte - in Maßen - das Feiern, führte bis 1991 die Frauenordination ein, entwickelte eine liberale Position zum Schwangerschaftsabbruch und enttabuisierte Homosexualität. Seit einigen Jahren dürfen in manchen Landeskirchen schwule oder lesbische Beziehungen auch im Pfarrhaus gelebt werden.
Ein Vorreiter war die protestantische Minderheit in Bayern, aus der auch Heinrich Bedford-Strohm stammt, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Es ist nicht verwunderlich, dass sich dieser nun, da sich die Protestanten unter der Losung »... damit wir klug werden« in Stuttgart zum Kirchentag versammeln, für einen weiteren Schritt ausgesprochen hat: Medien gegenüber plädierte er für eine Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Partner im Sinne einer »Kultur der Verbindlichkeit«.
Kirchentage dienen nicht der Beschlussfassung in heiklen Fragen - hier labt sich die Kirche an sich selbst. Dennoch lässt sich die Einlassung des EKD-Chefs durchaus im Kontext einer Auseinandersetzung zwischen Progressiven und Konservativen verstehen, die zuletzt an Bedeutung zu gewinnen und für die eine Öffnung der Ehe einen Gradmesser abzugeben scheint. Gerade in Baden-Württemberg regte sich diesbezüglich zuletzt erheblicher Widerstand.
Nachdem die gestattete kirchliche »Segenshandlung« einer Pforzheimer Pfarrerin an einem schwulen Paar für Konservative einer - nicht legitimen - Trauung zu ähnlich war, verfassten 25 Südwest-Pfarrer einen offenen Protestbrief an den evangelischen Landesbischof Badens, Jochen Cornelius-Bundschuh. Der Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Gebhard Fürst, brachte sich jüngst in die Schlagzeilen, als er dem schwulen Stuttgarter CDU-Politiker Stefan Kaufmann, Leiter der »Lesben und Schwulen in der Union« (LSU) den Segen zu seiner Beziehung verweigerte.
Die evangelisch-lutherische Kirche Sachsens hat gerade Carsten Rentzing zum Landesbischof gewählt, den Mitbegründer einer »Bekenntnis-Initiative« im Freistaat, die besonders gegen gleichgeschlechtliche Paare im Pfarrhaus Sturm läuft. In Bremen machte jüngst der Pastor Olaf Latzel von sich reden, der u. a. in einem Interview mit der Rechtspostille »Junge Freiheit« einen Sittenverfall im Protestantismus anprangerte. Und Frank Otfried July, evangelischer Landesbischof in Württemberg, rief 2014 zum »Marsch für das Leben« auf, auf dem konservative Christen beider Konfessionen vor allem auch gegen Schwangerschaftsabbrüche protestieren.
Sind solche Strömungen Rückzugsgefechte jenes Pietismus, unter dem schon Max Weber einst so gelitten hat? Oder Regungen jener neofundamentalistischen evangelikalen Haltungen, die sich seit Mitte der 1980er Jahre in den USA als Erfolgsmodell erweisen? Vorzeichen eines neuen wirtschaftsliberalen AfD-Protestantismus à la Bernd Lucke, der kein Freund einer Öffnung der Ehe ist und laut einer Homestory der »FAZ« auf Auto und Fernsehen verzichtet und gerne mit dem zweiten Gebot argumentiert: »Du sollst Dir kein Bildnis machen«? Muss sich der progressive Mainstream des Protestantismus allmählich wappnen?
Das pietistische Stuttgart eignet sich bestens als Kulisse dieser schwelenden Auseinandersetzung. Bedford-Strohm hat nicht nur in Sachen Ehe einen Hut in den Ring geworfen, sondern sich auch leidenschaftlich gegen eine weitere Abschottung gegen Flüchtlinge ausgesprochen. Auch das ist im Protestantismus nicht mehr so unumstritten, wie man angesichts von Kirchenasylen meinen könnte.
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