Da die Zeit gekommen ist

Gregor Gysi tritt nicht mehr als Fraktionsvorsitzender an. Seine Bielefelder Rede ist ein politisches Testament für die Linkspartei, wie er sie gern hätte

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 6 Min.

Ganz am Schluss steht er da auf der Bühne. Die Arme gerade am Körper. Ernstes Gesicht. Gregor Gysi macht eine kleine Verbeugung. Es ist ein Abschied. Das Ende einer Ära. Ein politischer Einschnitt. Auch eine kleine persönliche Befreiung.

Der kleine große Mann der Linkspartei zieht sich aus der ersten Reihe zurück. »Heute spreche ich letztmalig als Vorsitzender unserer Bundestagsfraktion auf einem unserer Parteitage«, waren die Worte, die in den vergangenen Wochen von vielen erwartet, von manchen befürchtet, von einigen wohl auch erhofft wurden. Im Herbst, wenn der Vorstand der Linksfraktion neu gewählt werden muss, wird Gregor Gysi nicht mehr antreten – »da die Zeit gekommen ist«, den Vorsitz in jüngere Hände zu legen.

Die Zeit, die gekommen ist. Daran werden sie noch oft denken in der Linkspartei. An diesen 7. Juni in Bielefeld. An Gysis Entscheidung. An das, was jetzt kommen wird.

»Personen sind nicht völlig unwichtig, aber entscheidend sind schon die Inhalte«, hatte Gysi wenige Stunde zuvor noch erklärt. Das ist in der Politik so richtig, wie es in seinem Fall falsch ist. Es gibt nicht viele Politiker, die derart prägend waren, die sich den Respekt noch von den erbittertsten Feinden erworben haben, die beneidet wurden ob ihrer Stellung. Gregor Gysi ist einer davon.

Gregor Gysi ist aber noch mehr, er ist in den vergangenen Jahren, nein Jahrzehnten das Gesicht der PDS und das Zentrum der Linkspartei gewesen – in einem manchmal auch problematischen Sinne. Weil es ja »nur« der Fraktionsvorsitz war, dessen Autorität Parteivorsitzende neben ihm in die zweite Reihe verwies. Weil es zu einsamen Entscheidungen beitrug, die mit dem Diskussionsbedürfnis der Partei nicht in jedem Fall Schritt hielten. Weil es, Gysi wird das in seiner Bielefelder Rede ganz am Ende selbst sagen, Eitelkeit befördert.

»Personen sind nicht völlig unwichtig, aber entscheidend sind schon die Inhalte« – dieser Satz von Gregor Gysi passt auf eine andere Weise gut zu seinen Bielefelder Abschied, der noch keiner ist, aber hinter diesen Tag wird es kein Zurück mehr geben. Der Linksfraktionschef hat nicht nur Weggefährten und Freunde gewürdigt, sich bei Mitstreitern bedankt. Gysi hat auch sein politisches Testament ausgesprochen, seine Vorstellungen davon, was die Linke nun – nach ihm – besser, anders, deutlicher machen müsse. Er hat dies auf eine Formulierung gebracht, die noch für Debatten sorgen wird – die LINKE müsse sich »normalisieren«.

Mehrere Antworten hat Gysi in Bielefeld aufgezählt auf die Frage, »was sollte unsere Partei auszeichnen«. Die erste betrifft das historische Selbstverständnis der Partei, ihren Umgang mit der eigenen Vergangenheit. »Wir brauchen ein zutiefst kritisches Verhältnis zum Staatssozialismus, also auch zur DDR«, sagt Gysi – und fordert, die Einschränkungen von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit deutlich zu benennen. Das heißt nicht, Biografien »arrogant und ohne Kenntnis« abzuwerten, im Gegenteil. »Aber wenn wir das richtige Maß an deutlicher Kritik auf der einen Seite und an Respekt auf der anderen Seite finden, sind wir glaubwürdig.«

Die zweite Antwort wird vielen Linken nicht gefallen, sie hat schon in Bielefeld den geringsten Applaus gefunden: »Wenn wir sozialistisch bleiben wollen, müssen wir erklären, was uns und warum am Kapitalismus stört, auch was uns nicht stört, sondern im Gegenteil gut ist und wie man das Störende überwinden und das andere erhalten kann.« Als Gysi auf die Effizienz der kapitalistischen Ökonomie zu sprechen kommt, ist Grummeln zu vernehmen. Als er ein Bündnis mit dem Mittelstand fordert auch. Man müsse versuchen, sagt Gysi, das, was nicht funktioniert und ungerecht ist am Kapitalismus, »mit anderen zu überwinden«.

Hierin beginnt die dritte und eigentlich zentrale Botschaft seiner Bielefelder Rede: Die Linkspartei, Gysi hat es in Interviews vor dem Parteitag schon gesagt, soll eine andere Haltung zum Mitregieren entwickeln.

Das ist in dieser Linkspartei keine einfache Sache. Es gibt die Haltelinien genannten Mindestbedingungen, deren Stellenwert über das Politische hinaus gewachsen ist zu einem Symbol. Gysi hat die Existenzberechtigung dieses Symbols in Bielefeld in Frage gestellt: »Es gibt bei uns viele, die eine Regierungsverantwortung anstreben und es gibt solche, die sie nicht wollen. Letztere können das aber nicht zugeben.« Ehrlich fände Gysi es, »sie sagten einfach, dass sie dagegen sind. Aber sie wissen, dass sich 90 Prozent unserer Wählerschaft wünscht, dass wir in einer Regierung Verantwortung übernehmen.«

Was Gysi hier als sein politisches Erbe benennt, als den Rat des Mannes, der 25 Jahre lang erst die PDS und dann die Linkspartei mitgeprägt hat, denkt er dabei nicht zuallererst aus der Perspektive der Debattenlage über Chancen und Grenzen des Linksreformismus. Dass die LINKE selbstbewusster auf eine Regierung hinarbeiten solle, ist ihm der notwendige Ausdruck ihrer Geschichte und seines Erfolgs: Es sei der Partei gelungen, »das politische Spektrum der Bundesrepublik deutlich nach links zu erweitern«. Man habe Akzeptanz gewonnen, und er – Gysi, ist dabei vorangegangen, damals schon, als es noch nicht selbstverständlich war, dass ein linker Politiker in einer Talkshow sitzt. Gysi kommt an anderer Stelle in seiner Bielefelder Rede darauf zu sprechen, aber der Zusammenhang ist unverkennbar: Was er ab 1990 erlebt hat, den Hass, auch die Bewunderung, die ihn oft mehr noch schmerzte, weil er wusste, dass er die in seine Person projizierten Erwartungen nicht erfüllen konnte – all das soll nicht umsonst gewesen sein. Deshalb geht Gysi nun wieder voran.

Er weiß, dass es nicht leicht ist, »in die Regierung zu gehen aber gesellschaftliche Opposition zu bleiben«. Und wenn er sagt, er meine, »das können wir schaffen«, dann klingt das nicht so, als ob da nicht auch ein Zweifel geblieben ist. Regieren in Berlin mit SPD, Grünen, ein Land in der NATO, den Exportweltmeister, die EU-Großmacht? Es geht Gysi weniger um konkrete Reformschritte, Geländegewinne, Verbesserungen – auch wenn er eine ganze Liste davon aufzählt. Es geht ihm vor allem um eine Haltung, die er seiner Partei vorschlägt. Weil sie eine andere Haltung braucht, so sieht das Gregor Gysi.

Wo es um die Frage des Mitregierens geht, zeigt der verhaltenere Applaus, dass es in dieser Frage eine Distanz gibt zwischen ihm, dem Fraktionsvorsitzenden, und Teilen der LINKEN. Es gehört zum Verhältnis zwischen ihm und den Genossen, viel länger schon. Aber es gehört zu diesem Verhältnis auch, dass selbst die meisten derer, die ihn kritisch sehen, wissen, was dieser Politiker für sie immer noch ist. Und der nun bald, »da die Zeit gekommen ist« – geht.

Minutenlang läuft der Beifall in Bielefeld. Sie wissen, dass sie ihn nicht ersetzen können.

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