Der seltene Reallohnanstieg
Japans Unternehmen nutzten die schlechte Wirtschaftslage zur Senkung ihrer Arbeitskosten
Tokio. Lange kannte das Reallohnniveau in Japan nur eine Richtung - abwärts. Allein in der vergangenen Dekade gab es einen Rückgang um durchschnittlich 0,8 Prozent pro Jahr. Denn mit wenigen Unterbrechungen sah die Situation der weltweit drittgrößten Volkswirtschaft seit Anfang der 1990er Jahre so aus: Das Land steckte in der Deflation. Zwar hätte das fallende Preisniveau den Reallohn selbst bei gleichbleibenden Gehältern ansteigen lassen, doch die Unternehmen nutzten die Situation für Kürzungen bei den Personalkosten, vor allem durch Ausbau prekärer Arbeitsverhältnisse. Und wenn die Preise mal leicht stiegen, wurden die Löhne meist nicht entsprechend angehoben. Denn viele Betriebe gingen nicht von einem nachhaltigen Aufschwung mit steigender Nachfrage aus.
Aktuelle Statistiken des Arbeitsministeriums zeigen nun etwas anderes. Demnach ist der durchschnittliche Nominallohn inklusive Überstunden und Boni im April um 0,9 Prozent auf 274 577 Yen (rund 2000 Euro) gestiegen. Nach harten Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen markierte dies die stärkste Zunahme seit Dezember 2014 und die zweite in Folge. Unter Berücksichtigung der Inflationsrate beträgt der Lohnzuwachs allerdings nur noch 0,1 Prozent, und da es sich um vorläufige Berechnungen handelt, könnte der kleine Reallohnanstieg auch noch verschwinden. Aber immerhin ist die Entwicklung im Vergleich zum vergangenen Jahr, als die Reallöhne im Schnitt um drei Prozent fielen, doch positiv.
Ein Problem bei der Berechnung der Lohnentwicklung ist, dass gerade in Japan längst nicht jeder abhängig Beschäftigte von dem Durchschnittswert profitiert. Seit dem Platzen einer Spekulationsblase im Jahr 1990, dessen Folgen die Volkswirtschaft bis heute belastet, hat sich der Arbeitsmarkt in zwei Klassen von Verträgen aufgeteilt. Den Vollzeitbeschäftigten mit starkem Kündigungsschutz, sozialer Absicherung und dem Versprechen auf Tariflohnsteigerungen steht ein wachsendes Heer von befristet oder in Teilzeit Angestellten sowie Selbstständigen gegenüber, die über solche Absicherung meist nicht verfügen. Sie machen mittlerweile rund ein Drittel der Arbeitsbevölkerung aus und verdienen im Schnitt mehr als ein Drittel weniger als Festangestellte. Auch von einem Lohnanstieg profitieren tendenziell eher die Vollzeitangestellten, die durch die in Japan häufig nur auf Betriebsebene organisierten Gewerkschaften stärker vertreten werden.
Die nur geringe Zunahme der Reallöhne für einen Teil der Beschäftigung ist für die Regierung dennoch eine positive Nachricht. Die Anhebung der Mehrwertsteuer von fünf auf acht Prozent im vergangenen Jahr, die den Anstieg der bereits sehr hohen Staatsschulden von weit über 200 Prozent der Wirtschaftsleistung eindämmen sollte, ließ die Binnennachfrage einbrechen, die Volkswirtschaft rutschte wieder mal in die Rezession. Nun allerdings scheinen die negativen Effekte überwunden.
Premierminister Shinzo Abe kann damit erst einmal durchatmen. So kauft er sich ein bisschen mehr Zeit, die seit Langem versprochenen wachstumsorientierten Reformen anzugehen. Seit seinem Amtsantritt Ende 2012 kündigte er immer wieder an, den geringen Anteil der Frauen am Arbeitsmarkt zu erhöhen, die Zuwanderung von Fachkräften zu erleichtern und die Japaner zu Unternehmensgründungen zu motivieren. Der Regierung ist klar, dass ohne solche Schritte die hohen Staatsausgaben und die groß angelegten Anleihekäufe der Zentralbank keine dauerhafte Wachstumswirkung erzielen werden - auch die Zunahme der Reallöhne dürfte dann von kurzer Dauer sein.
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