Kolumbien hofft auf Wahrheit
Regierung und FARC-Rebellen einigen sich auf Kommission / Strafrechtliche Fragen offen
Bogotá. »Das Ende des Konflikts stellt eine einzigartige Chance dar, die größten Wünsche der kolumbianischen Gesellschaft und besonders der Opfer zu erfüllen: dass die Wahrheit über das Geschehene im Konflikt aufgeklärt und bekannt wird.« Mit diesen Worten meldeten sich Ende vergangener Woche die beiden Verhandlungsparteien aus der kubanischen Hauptstadt Havanna zu Wort, um die jüngste Übereinkunft bei den seit Ende 2012 andauernden Friedensverhandlungen zu verkünden. Die unabhängige, überparteiliche elfköpfige Wahrheitskommission soll drei Jahren lang bestehen, sobald beide Seiten die Unterschrift unter einen möglichen Friedensvertrag gesetzt haben. Ob dies gelingen würde, war zuletzt fraglich gewesen, nachdem erneut aufflammende Angriffe und Attentate beider Seiten die ohnehin stockenden Friedensgespräche arg erschüttert hatten.
Nach Einigungen über eine Agrarreform, die politische Teilhabe und den Drogenhandel ringen die Verhandlungsdelegationen seit rund einem Jahr um die Frage nach dem Umgang mit den Opfern des Konflikts und dabei insbesondere um die Verantwortlichkeiten und rechtliche Ahndung der Taten der Guerilla, aber auch der Paramilitärs und staatlicher Institutionen. Es ist nicht das erste Mal, dass Kolumbien seine gewalttätige Vergangenheit aufarbeiten will. Doch die nun vereinbarte Wahrheitskommission soll, im Gegensatz zu Initiativen in den vergangenen Jahrzehnten, nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Verantwortung für begangene Verbrechen beleuchten. Darauf hatten die FARC mit Blick auf die Menschenrechtsverletzungen durch Militärs und die Zusammenarbeit staatlicher Institutionen mit paramilitärischen Gruppen wiederholt gedrängt. Ob die Wahrheitskommission allerdings auch die in diesem Zusammenhang von der Guerilla geforderte Öffnung geheimer staatlicher Archive erwirken kann, ist noch offen.
Für die 1964 aus einer bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppe hervorgegangenen Rebellen ist die ihrer Ansicht nach vollständige Darstellung der »historischen Wahrheit« des Konfliktes von großer Relevanz. Die FARC sehen sich selbst weniger als Täter denn als historische Opfer eines repressiven, imperialistischen Kapitalismus. Die Wurzeln des gerechten Kampfes liegen ihrer Lesart nach nicht, wie in früheren Wahrheitskommissionen angenommen, im Gründungsjahr der Guerilla, sondern gehen bis zu den Anfängen der Arbeiterproteste und Bauernbewegungen in den späten 1920er Jahren zurück.
Beide Seiten haben eine weite mediale Verbreitung der Ergebnisse der Wahrheitskommission festgelegt. Bislang hätten frühere Kommissionen nie eine große Breitenwirkung entfaltet, erläutert der Historiker Sven Schuster, der zur Vergangenheitsbewältigung in Kolumbien forscht, im Gespräch mit »nd«. »Meistens waren sie nur politische Vehikel, um eine schnelle Amnestie der bewaffneten Akteure zu legitimieren. Dauerhafter Frieden oder gar tief gehende Debatten über die Ursprünge der Gewalt konnten damit kaum erreicht werden«. Kolumbien sei bis heute weitestgehend ein »Land ohne Erinnerung«.
Ist mit der jetzigen Einigung die wichtigste Hürde genommen, die die Friedensverhandlungen zuletzt am Weiterkommen hinderte? Offiziell nicht. Denn für die Frage nach der Bestrafung der Guerilleros werden die Ergebnisse der Wahrheitskommission keinerlei juristische Bedeutung haben, und öffentlich pocht die Regierung unter Verweis auf internationale Rechtsstandards weiterhin auf Gefängnisstrafen für die führenden Rebellen.
Die FARC lehnen das ab. Historiker Schuster glaubt, dass beide Seiten nun einen Deal aushandeln könnten, der die schlimmsten Verbrechen auf beiden Seiten ahndet, die Taten aber nur symbolisch bestraft oder Strafen vollends aussetzt. Dieses Vorgehen, so der Geschichtswissenschaftler, wäre aus historischer Sicht »geradezu klassisch kolumbianisch«.
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