Das arme Bulgarien verliert seine Einwohner
Schwarzarbeit, Schattenwirtschaft und ein Stundenlohn von 3,70 Euro treibt die Menschen aus dem Land
Sofia. Bulgarien könnte schon bald ein Land ohne Arbeitskräfte sein - wegen der Niedriglöhne. Das ist die Voraussage des Ökonomen Gancho Ganchev in einem Interview mit der Mitte-Links-Zeitung »Duma«. Es verloren allein im Monat April vier Arbeiter ihr Leben, als sie in ein baufälliges Haus geschickt wurden. Die Männer arbeiteten ohne Vertrag und bekamen einen Hungerlohn. »Der schwarze Arbeitsmarkt bei uns tötet Menschen«, kommentierte die Baugewerkschaft Pod.
Diese düstere Wirklichkeit zwingt immer mehr Arbeiter, sich im Ausland zu verdingen. Kein Wunder! Der durchschnittliche Stundenlohn in Bulgarien beträgt 3,70 Euro. Deutschland ist ein bevorzugtes Land, um auszuwandern. Bulgarische Arbeiter kamen dorthin bisher nur vereinzelt, doch heute reisen sie in Gruppen ein.
»Niemand bleibt zu Hause«, sagt ein junger Mann. Er besucht Kurse zur beruflichen Weiterbildung und lebte im kleinen Dorf Dolna Orychovica. Er fand eine Arbeit im bundesdeutschen Handel und seine Zukunft war damit klar: »Ich werde auch gehen.«
Diese weit verbreitete Stimmung kann kaum überraschen, bedenkt man eine Umfrage von Gallup International, die herausgefunden hat, dass 64 Prozent der Bulgaren für die Zukunft des Landes schwarz sehen. 61 Prozent haben auch kein Vertrauen in die Regierung. Sogar Zeitungen wie die »Washington Post« räumen ein, dass Bulgarien mittlerweile einen extremen Rückgang der Bevölkerungszahl zu verzeichnen hat. Er wird vor allem verursacht durch die großen Emigrationswellen nach 1989 sowie die hohe Sterbe- und eine niedrige Geburtenrate.
Bulgarien ist ein Land, in dem Politiker und Bevölkerung in zwei verschiedenen Welten leben. Die Gewerkschaft Podkrepa (Unterstützung) verbreitete in jüngster Zeit weitere beunruhigende Informationen. Obwohl 600 000 Bulgaren Arbeit haben, leben sie doch in größter Armut. Diese Berufstätigen haben ein Einkommen unter 67 Prozent des nationalen Durchschnitts. Das sind weniger als 200 Euro pro Monat. Anfang 2015 wurde die offizielle Armutsgrenze auf 143 Euro erhöht. Aber Berufstätige, die den Mindestlohn erhalten, rutschen nach dem Abzug von Steuern und Sozialabgaben, trotzdem unter die Grenze. Das trifft auch auf die 21 Prozent der Arbeiter zu, die nur in Teilzeit eingesetzt sind.
170 000 der insgesamt 7,2 Millionen Bulgaren müssen sich mit dem Mindestlohn zufriedengeben. Podkrepa schätzt, dass sich 21 Prozent der Haushalte im Lande, das betrifft 1,67 Millionen Menschen, unterhalb der Armutsgrenze befinden. Inoffizielle nationale Statistiken zeigen, dass die Arbeitslosen mit 47,6 Prozent den größten Anteil an den armen Bulgaren ausmachen.
Die bulgarische Europaabgeordnete Iliana Yotova präsentierte weitere Zahlen. Sie informierte, dass 60 Prozent der bulgarischen Beschäftigten, die im Tourismus arbeiten, eigentlich Teil der Schattenwirtschaft seien - die meisten von ihnen sind Frauen. Wegen der auf die Saison begrenzten Verträge haben sie kein Recht auf bezahlten Mutterschafts- oder Erholungsurlaub und schon gar nicht auf andere Formen der sozialen Unterstützung.
Die erbärmlichen Lebensbedingungen dieser Berufstätigen sorgen bei der politischen Elite aber nicht für Mitgefühl. Kürzlich fragten Journalisten Finanzminister Vladislav Goranov, wie er leben und die Stromrechnung bezahlen könnte, würde er nur 200 Euro im Monat erhalten. Seine trockene Antwort: »Die Leute haben sowieso nicht immer Strom.«
Bulgaren, die in Armut leben, wissen, dass sie in ihrem Land keine bessere Zukunft erwartet. Sie packen die Koffer. Im Jahr 2014 reisten allein 183 263 Bulgaren nach Deutschland.
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