Marzipan im Tiefkühlschrank
Deutsche Oper Berlin: Regisseur Philipp Stölzl gewinnt Charles Gounods seichtem »Faust« mehr ab, als darin steckt
Die Bühne hat eine Riesenröhre in der Mitte, deren Mantel je nach Situation die Farben wechselt, ein Turm ohne Öffnungen. Um den herum rankt sich die Story, laufen, kriechen Menschen, verweilen, kommen und verschwinden. Sie können einander treffen auf dem Mittelstreifen, der sich dreht. Links steht eine Pritsche, ein seltsam geformtes Ding. Erst zuletzt stellt sich heraus, dass, wer darauf liegt, dem Tode geweiht ist. Bitter, bitter. Dabei hebt die Geschichte freudig an. Freudig? Der alte Zausel Faust erhält über Mephistos Zauberei seine Jugend wieder. Ein so glückhafter wie horrender Vorgang, Kraftquell und Verkauf der Seele in einem.
Wer Gounods »Faust« brauchbar umzusetzen sucht, der hat es wahrlich nicht leicht. Die fünfaktige Oper ist altbacken und hat mit dem klassischen »Faust« so gut wie nichts zu schaffen. Kommt das Werk des Franzosen, der darüber berühmt geworden ist, museal auf die Bühne, bedient es nichts als die Wünsche jenes Publikums, das am weitesten zurückgebliebenen ist. Dieser »Faust«, 1859 in Paris unter Jubel uraufgeführt, geht indes auch anders zu machen. Das zeigte diese Premiere an der Deutschen Oper zumindest in Ansätzen.
»Hör, du musst mir die Dirne schaffen! / (...) Wenn nicht das süße junge Blut / Heut Nacht in meinen Armen ruht, / So sind wir um Mitternacht geschieden.« Sagt Faust, in Mephisto dringend. Und der verschafft das Fleisch nicht, bevor er mit Faust den berühmten Pakt geschlossen hat. Margarethe ist die Angebetete des nunmehrigen Jünglings. Es dauert, ehe sie sich zum ihm bekennt. Schutzpatron ist ihr Bruder Valentin - Soldat, Kriegsgänger und -heimkehrer unterm Taumel des Volkes (Chor). Faust, alle Nebenbuhlerei abwehrend (Siebel-Geschichte), liebt sie zwar, doch seine Entbranntheit erschöpft sich alsbald in bloßer Begierde.
Eines macht die Bühne in der Regie Philipp Stölzls rasch klar. Erotische Reinheit geht nicht. Jeder darf am Rand mit jeder fummeln. Faust verlässt die Erkorene, begegnet ihr aber später wieder. Beider unterdes lädierte Herzen pochen zwar immer noch für einander. Doch die unerschütterliche Margarethe endet schließlich als enttäuschte, von allzu viel Glauben an Engelein zerknirschte Frau, die es vorzieht, eher dem lieben Gott ergeben zu sein als den Rätseln und Tränen der irdischen Liebe. Wer da nicht mitweint, ist selber schuld. Dies, versehen mit Nebensträngen, ist die Erzählfolie der Oper. Von der Goetheschen Höhe des »Faust« Teil I bleibt allenfalls ein Hauch. Darum ist die Oper häufig unter dem Titel »Margarethe« angeboten worden. Hier nicht. Aber das hat keinerlei Bedeutung.
Zur Musik des »Faust« nur so viel. Sie ist selig romantisch, selbst wenn die Tragödie im Zenit steht und das Orchester aus allen Fugen scheint. Viervierteltonalität nistet in fast jedem Takt. Molldämmerungen immergleicher Spielart durchwandern die Partitur. Das beginnt in der Ouvertüre und endet im finalen Choral. Einige Arien, etwa Margarethes Schlussgesang, wirken tief empfunden.
Es ist schon komisch, Gounod schrieb ein gutes Dutzend Opern, und nur diese eine hat sich gehalten. Dabei hängt das runde Gebilde, das nichts als eine billige Liebesstory entrollt, tief im Zeitgeschmack. Warum aber entzückt die Oper heute noch? Und wen? Mozarts große Opern sind zeitlos und faszinieren, diese weder noch. Sie verärgert eher. Der Saal der Deutsche Oper war gleichwohl bis auf den letzten Platz gefüllt. Häufig kam Szenenbeifall. Woran rühren die sich aussingende Seele der Margarete, die zweischneidigen Tonfälle des Faust und seines Wiedergängers?
Philipp Stölzl weiß freilich um die Probleme dieses hochromantischen Opus. Einmal eingewilligt, es umzusetzen, musste er sich was einfallen lassen. Die Musik bleibt unangetastet. Kein Pferd Goethes wiehert in die Vorgänge hinein, und Rockklänge einzubauen, ist unstatthaft. Immerhin. In Augenschein gerät hauptsächlich die Bühnengestaltung. Mit Heinke Vollmer auch dafür zuständig, baut Stölzl sehr eindringliche, einprägsame Bilder und Figurenarrangements wider den romantischen Seelenfluss der Musik. Kälte, Starre, Erstarrung sind Dominanten über fast drei Stunden weg. Die Oper gefriert gleichsam wie das Stück Buttercremtorte mit Sahne und dem schmalzig glänzenden Kopf aus Marzipan drauf im Tiefkühlfach.
Während Faust um die Liebe Margarethes wirbt, kreisen Genrebilder mit Handwerkern, Köchinnen, spielenden Mädchen. Die wirken wie gemalt. Grau und tot erscheint selbst, was sich bewegt. Die zylindrische Turmwand ist Stätte der Anlehnung. Die vereinsamte, verlassene Margarethe schmiegt sich ans fahle Rund. Die Wohnstatt der Frau ist ein klappriger, schmutziger, einachsiger Wohnwagen. Der wird nicht gezogen, er dreht mit, wenn die Mittelbühne dreht. Dann, als der Kummer allseits groß ist, regiert Kälte naturwüchsig. Es schneit. Menschengruppen erstarren in der Pantomime. Einzelne hocken traurig auf weißem Grund. Die schneebedeckte Bühne dreht auch die zerlumpten, hinkenden, verletzt kriechenden Soldaten, die mit Valentin voran aus dem Krieg zurückgekehrt sind, einem Krieg, in dem sie gesiegt haben sollen, suggerieren das Marcato der Musik und Volkes Gesang. Hier kontrapunktiert die Szene am stärksten zum zähen Fluss des Geschehens, indem sie Heldentum karikiert.
Kaum zu erwähnen, dass das Ensemble sängerisch wie aus einem Guss erscheint. Beste Stimmen schmeicheln dem Ohr. Dazu eingängige Chöre (Chor der Deutschen Oper), einstudiert von Thomas Richter und begleitet vom vielfach unterforderten Hausorchester unter Marco Armiliato. Unter den Sängern herausragend Markus Brück als heldischer und auch so sterbender Valentin. Neben Faust (Teodor Ilincai) und Mephisto (Ildebrando D’Arcangelo) brilliert selbstredend die große Krassimira Stoyanova als Margarethe.
Die Protagonistin stirbt am Ende, besser: Sie wird von Henkern umgebracht. Schlussszene: Mauer, Stacheldraht, zwei Wärter - das Heldenpaar fackelt nicht lange - verrecken durch Pistolenschüsse. Margarethe in der Zelle, sie will raus und sie will nicht raus. Denn die grobe Männerwelt ekelt sie. Was Wunder, dass sie den Herrn um Vergebung bittet und sie ihr traurigstes, anmutigstes, weinerlichstes Lied während der ganzen Oper so über die Lippen bringt, dass die gesamte Gemeinde im Saal nicht weiß, ob sie echte Tränen vergießen oder bloß heulen soll. Auf besagter Pritsche erhält sie die Giftspritze. Vorhang. Jubel.
Nächste Vorstellung: 24.6.
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