Wenig Touristen in Südossetien
Visite in der kleinen Kaukasusrepublik zwischen Russland und Georgien
Der sehr schlanke Stanislaw Dschiojew mit den schneeweißen Haaren und der großen Brille auf der Höckernase sitzt mit einer jungen Sekretärin in einem sehr bescheidenen Raum. Der überlegte Stanislaw, ein Bevollmächtigter des Exekutivkomitees Südossetiens, freut sich, dass »Russland unsere Unabhängigkeit anerkannte. Das ist uns am wichtigsten! Und was darüber die anderen Länder denken, ist nur zweitrangig.«
Der sehr entgegenkommende und hilfsbereite Stanislaw studiert seinen Notizblock und ruft den Grenzkontrollpunkt an: »Bei mir sitzt ein Journalist, der die russische Staatsbürgerschaft besitzt, aber in Deutschland lebt. Wird er morgen die Grenze passieren können oder wird ihm die Einreise untersagt?« Irgendwann bekommt er eine positive Antwort und ruft dann Wjatscheslaw Gobosow, den Leiter des Komitees für Presse und Information an. Ein Auto und eine Führung werden organisiert.
Die georgisch-südossetische Grenze wäre schwer zu passieren. Dagegen kann man in die kleine Kaukasusrepublik über die Grenze mit Russland, beziehungsweise über die russische Republik Nordossetien-Alanien gelangen. Doch eine solche Einreise wird von Georgien als Grenzverletzung angesehen. Falls man später nach Georgien reist, sollte man diesen Besuch besser verheimlichen.
Für die überwiegende Mehrheit solcher Außenseiter wie wir ist dies aber uninteressant, weil Südossetien kaum ein Reiseziel für Touristen ist. Mit den Bussen, die zwischen Wladikawkas und der Heldenstadt Zchinwal, beziehungsweise Zchinwali, der Hauptstadt Südossetiens, verkehren, fahren fast nur die Einheimischen.
Wladikawkas, die Hauptstadt von Nordossetien-Alanien bietet mehr Konsummöglichkeiten und Freizeitvergnügungen. Auch Verwandte besuchen einander und empfinden die beiden Ossetien als ein Land, das »leider durch die Grenze geteilt ist«.
Falls sich jemand Südossetien anschauen möchte und sich darüber im Internet informiert, bekommt recht wenig Aktuelles heraus. Etwa 99 Prozent aller Bilder zu Zchinwali, die das russische Google präsentiert, zeigen seit dem Kaukasuskrieg 2008 die Stadt während des Krieges und unmittelbar danach: Panzer- und Autowracks, ausgebrannte Ruinen, Leichen, uniformierte Kämpfer. Südossetien ist beinahe so eine Art Terra incognita, ein unbekanntes Land.
Für uns geht es am nächsten Morgen mit einem zur Hälfte leeren Bus los. Einige alte Menschen und ein Kind kehren heim. Die Straße schlängelt sich durchs Gebirge. Das ist so gewaltig, dass es scheint als würde der Himmel auf ihm ruhen. Irgendwann erreicht man die russische Grenze. Der Grenzsoldat will lediglich die Passumschläge mit dem russischen goldenen Doppeladler sehen. Danach kommt die südossetische Grenze. Zuerst wird kurz geprüft, ob alle Doppeladler-Pässe haben, dann werden die Dokumente genauer studiert.
Am Straßenrand stehen immer wieder große Kanonen. Damit können kontrolliert Lawinen ausgelöst werden. Der Bus fährt an Ruinen mittelalterlicher Türme vorbei. Manche davon sind mit den kleinen Häusern verwachsen. Später passiert er eine Stalinbüste. Die Osseten behaupten, dass Stalin ein Ossete war, seine Büsten sind in beiden Ossetien zu finden. Eine der Straßen Zchinwalis ist nach ihm benannt.
Schon unweit Zchinwalis ändert sich der Anblick: Ruinen, Fundamente, glaslose Fassaden und die Banner »Wir werden es nie vergessen!« Auf einem Haus und auf einem Berg steht »Danke Russland!« geschrieben. Der Bus bleibt gegenüber dem Steinsockel, auf dem die südossetische Flagge flattert, stehen. Früher stand Lenin darauf.
Im Haus der Presse vermittelt Madina, eine Frau mittleren Alters, ein Auto mit einem Chauffeur - Kusma Tedejew (23) und einer Führerin - »Eka« Puchajewa (27). Kostenlos. Madina meint: »Um in der Stadt fotografieren zu dürfen, muss man eine Zeitung vertreten und bei uns akkreditiert werden.« Man muss ihr seinen Pass zum Einscannen geben. Dann füllt sie ein Kärtchen aus. »Falls jemand Sie auf der Straße aufhalten sollte, werden Sie mit diesem Kärtchen keine Probleme bekommen.«
»Eka« bittet, vorne im geländegängigen »Lada Niva« Platz zu nehmen und stellt Elina Gabarajewa (24) vor, die bereits hinten sitzt. Beide Frauen und Kusma arbeiten in der Nachrichtenagentur. »Eka« sagt, dass noch eine Freundin mitkommen möchte. Der weiße »Lada« hoppelt über die Asphaltreste, wirft Steine und Staubwolken nach hinten, befährt gelegentlich die reparierte Fahrbahn und passiert einige wenige Ampeln. Sarina Chubajewa (24), die beim Rundfunk arbeitet, wird abgeholt und es geht weiter.
Viele Häuser zeigen Kriegsschäden und Einschüsse. Einige stehen ohne Fenster und Dächer da. Manche sind verlassen. Viele Kulturerbe-Denkmäler existieren nicht mehr. Man findet aber noch Kirchen aus dem 17. Jahrhundert. Banner erinnern an den Genozid, dessen Georgien nach den bewaffneten Auseinandersetzungen von 2008 beschuldigt wurde. Zwischen einer Schule und einem Wohnblock befindet sich ein Friedhof. Einige Männer sind auf den Grabsteinen in Lebensgröße eingemeißelt, manche mit Kalaschnikows. Man sieht auch andere Kriegsmahnmale, aber weder Tote noch Panzerwracks wie in den elektronischen Wissensspeichern.
Uns begegnen Frauen in kurzen Röcken, freundliche Passanten, die einkaufen und mit Kindern spazieren gehen. Nur ein einziger Geschützturm wurde als Mahnmal stehen gelassen. Generalleutnant Anatolij Barankewitsch, ehemaliger Verteidigungsminister, hat höchstpersönlich einen Panzer »T-72« abgeschossen.
Die Stadt wird renoviert. Das Regierungsgebäude, ein Stadion, eine Bibliothek und manche Häuser scheinen nagelneu zu sein. Darüber hinaus die militärische Siedlung, wo die russischen Soldaten stationiert sind. In Südossetien gilt der russische Rubel als staatliche Währung, Russisch neben Ossetisch auch als offizielle Sprache. Georgisch genießt einen offiziellen Status nur in einem kleinen Teil der Republik, wo die georgische Bevölkerung dominiert. Fast alle Einwohner der Republik besitzen zusätzlich die russische Staatsbürgerschaft. Während der beiden Kaukasuskriege gab es Abertausende Flüchtlinge.
Die wirtschaftliche Lage wurde auch durch russische Finanzierung etwas verbessert, und Südossetien will in Zukunft seine wirtschaftliche Situation auch mit Tourismus aufbessern. Es gibt in der Hauptstadt zwei Hotels und einen Souvenirladen. Das Café »21. Jahrhundert« ist laut den Frauen nicht präsentabel genug. Es entpuppt sich aber als verhältnismäßig ordentlich. Hier kann man die berühmten ossetischen Piroggen mit Käse, Fleisch und Rote-Bete-Blättern kosten. Beim Essen erwähnt »Eka«, dass sie halb Georgierin sei. Ihre Freunde versichern gleich: »Das sind unsere Georgier, die Guten!«
Die ganze Fahrt durch die Stadt, wo die Kriegsfolgen noch immer fast überall zu sehen sind, wird von fröhlichem Lachen begleitet. Die lebensfrohen Frauen scherzen, flachsen und lachen fast ununterbrochen. Der zurückhaltende Kusma versucht ernst zu bleiben und doch hält er das nicht lange aus und lacht mit. Auch auf der Straße schubsen sie einander, machen fröhlich ihre Späße. Die Soldaten und die Miliz schauen zu, aber bleiben gleichgültig.
Irgendwann erwähnen die Frauen, wie sie sich in den Kellern versteckten, Schüsse hörten und jedes mal zitterten, wenn jemand die Kellertür aufmachte. Stolz erzählen sie, dass sie General Barankewitsch hautnah erlebten - als er die Menschen in den Kellern beruhigte. Hochgestimmt verweisen sie auf ihre eigene doppelte Staatsbürgerschaft.
Nach den Schrecken des Krieges will man leben und das Leben genießen, Spaß haben, sich jeder Minute freuen. Kriegserinnerungen werden offenbar verdrängt und Kriegsspuren übersehen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.