Die vier großen E
Alles, was man über den Westdeutschen wissen sollte. Eine ethnologische Annäherung an eine nicht immer ganz einfache Menschensorte. Von Thomas Blum
Schiller, Goethe, Heine, Marx, Kollwitz, Tucholsky - im Osten, der DDR, dem Land der aufgehenden Sonne und der humanistischen Bildung, das ganz dem Humboldtschen Ideal zugetan war, hatten diese Namen einen magischen Klang. Fortschrittliche, mutige Dichter, Philosophen, Künstler waren die Künder einer künftigen besseren, gerechteren Gesellschaft, die dereinst auf deutschem Boden entstehen sollte. Jede und jeder, vom Greis bis zum Kleinkind, hatte die Werke der Genannten freudig studiert und auswendig gelernt, um den neuen Menschen, die neue Gesellschaft, die man erstrebte, wenigstens auf der Zunge liegen zu haben, bis sie Realität wurde. Heinrich von Kleists »Michael Kohlhaas« und Heinrich Manns »Der Untertan« hatte man in der DDR schon gelesen und begriffen, während von den Analphabeten in der BRD vor allem schlecht redigierte Schundliteratur (»Jerry Cotton«, »Perry Rhodan«, »Martin Walser«) und mit Propaganda, Flitterkram und Schnickschnack vollgestopfte Ramschillustrierte verschlungen wurden.
Natürlich, auch der Westler hat von all den am Anfang dieses Textes namentlich aufgeführten Denkern vielleicht schon einmal gehört, wahrscheinlich infolge eines Missgeschicks beim Hantieren mit der Fernbedienung, als er nach Ende der Werbepause versehentlich nicht zügig genug wieder auf die Sportschau oder »Wetten, dass...?« wechselte, weil sein Unterarm zehn Zentimeter tief in der Chips-Schüssel steckte und am anderen eine Flasche Bier installiert war: Die ersten beiden, Goethe und Schiller, so würde er wohl sagen, wenn man ihn fragte, sind zwei schwul aussehende Typen mit Dauerwellen, Kniebundhosen und Federkiel in der Hand, die irgendwann früher lebten, bevor es das Internet gab. Heine? Nie gehört. Marx ist der mit dem Bart, der, wie man weiß, die Weltbevölkerung per Kommunismus, Weltkrieg und Mauerbau versklaven wollte. Der Vierte, dieser Kollsalik oder Konsawitz, hat das Buch »Liebesnächte in der Taiga« geschrieben, und der Fünfte ist der Lieblingsschriftsteller von Helmut Kohl, CDU. Wer braucht schon Heine & Tucholsky, wenn es Sex & the City gibt bzw. Hauser & Kienzle oder Börne & Thiel. Dies in etwa würde herauskommen, befragte man den durchschnittlichen Westler nach den eingangs Genannten.
Denn der Westler - sagen wir es ruhig rundheraus - ist dumm wie Brot. Er weiß nichts, er kann nichts, er versteht nichts. Auf der Schule hat er außer Bockspringen, Daumenlutschen, Eierschaukeln, Mengenlehre und Aktienkursen nichts gelernt. Und was die Welt als »Kapitalismus« kennt, heißt bei ihm »soziale Marktwirtschaft«, denn im Verschleiern und Umtaufen von Dingen ist er gut, der Wessi.
Philosophie, Literatur, Gedöns - all das gilt ihm nichts: brotlose Künste, leere Worte, Hirnwichserei. Sätze, die mehr als fünf Wörter haben, kennt er nicht, sind ihm suspekt, ängstigen ihn, will er nicht lesen. Dem Satz »Ey, Alter, gib mal die Wurst« kann er noch folgen, dem Satz »Das Dasein der Sprache erstreckt sich nicht nur über alle Gebiete menschlicher Geistesäußerung, der in irgendeinem Sinn immer Sprache innewohnt, sondern es erstreckt sich auf schlechthin alles« hingegen schon nicht mehr. Hauptsache, der Fernsehkasten brummt, der Tank ist voll und das Bier billig, so denkt er, der Wessi, dessen radikale Kunst- und Intellektuellenfeindlichkeit seit Jahrzehnten zuverlässig dafür sorgt, dass er die »Intellektuellen« hat, die er verdient: Denis Scheck, Karasek, Biolek, Ed von Schleck, Sloterdijk und Sibylle Lewitscharoff (alles Westler, ein Zufall?).
Dennoch schämt er sich kein bisschen seiner Unbildung und Ignoranz. Vielmehr zeigt er einen diffusen Stolz auf die Mischung aus Ahnungslosigkeit, Egoismus und Dreistigkeit, die ihn ausmacht. »Das Ich und Mich, das Mir und Mein regiert in dieser Welt allein«, so keift er. »Von nichts kommt nichts«, »Nach mir die Sintflut« und »Der Zweck heiligt die Mittel«, so lauten seine Credos. Sein Gott heißt Arbeit, und die besteht traditionell aus Lumperei und Abzockerei.
Denn der Westler, seien wir ehrlich, hat außer dunklen Machenschaften und Tricks, wie man andere übers Ohr haut, nichts gelernt. Das schamlose Übertölpeln Anderer, Schwächerer zum Zwecke eigener Bereicherung ist ihm zur zweiten Natur geworden. Stand anno 1990 etwa nach einem seiner verbrecherischen »Geschäftsabschlüsse« ein Kind mit Tränen in den kleinen Kulleraugen vor ihm und erinnerte ihn dergestalt an die Verworfenheit seines Tuns, kannte er kein Mitleid, empfand nichts als dumpfe Verachtung für das von ihm als nutzloser Esser eingestufte Ostbalg, das im Gegensatz zu ihm in der Schule aus sozialistischem Lehrermunde noch goldene Worte wie »Klassenstandpunkt« und »Dialektischer Materialismus« hat hören dürfen, während in den eher Propagandainstitute als Bildungsanstalten zu nennenden Schulen der Bundesrepublik schon die kleinsten Zöglinge mit Begriffen wie »Standortlogik« und »Wirtschaftswachstum« zu reibungslos funktionierenden seelenlosen Automaten getrimmt wurden, deren einziger Lebenssinn aus den vier großen E erwächst: Egoismus, Erwerbsarbeit, Einkaufen und Einverstandensein.
Insbesondere den Egoismus kultiviert der Westdeutsche. Als Taschenspieler, Bauernfänger und Halsabschneider zog der Westdeutsche schon 1989 über das schamlos ausgetrickste kleine Land DDR, das er sich im Eiltempo kaltschnäuzig unter den Nagel gerissen hatte, und erleichterte, ein falsches Lachen auf den Lippen, noch die ärmsten Haushalte um deren bescheidene Barschaft: »Haben Sie schon eine Hausschuhschrank-Zusatzversicherung? Mein Bruder ist übrigens Autohändler und hat soeben einen beinahe neuen Opel Kadett Baujahr 1972 reinbekommen, kostet für Sie nur die Hälfte.«
Schnell wurde klar: Dem Ostler - gelernter tapferer Streiter für das Gute, die Solidarität und die Gerechtigkeit in der Welt, im Geiste ein unschuldiges Kind - konnte man ausnahmslos alles andrehen (»Spiegel«-Abos, Quatschversicherungen, Kieselsteine).
Der Westler, verschlagen und tückisch, wie man ihn kennt, karrte daher tonnenweise als unverkäuflich eingestuften Plunder und Industrieabfälle in die im Eiltempo an den Autobahnen errichteten Abholmärkte und »Einkaufsparadiese« (wie gesagt: der Ostler glaubte alles) und sahnte mächtig ab. Es waren goldene Zeiten.
Doch damit nicht genug: Der Westdeutsche ist, um mit dem großen Philosophen Gerhard Polt zu sprechen, »wie der Hausschwamm«: So, wie man diesen - hat man ihn erst mal gewähren lassen - irgendwann nicht mehr aus dem Haus bekommt, kriegt man den Wessi nicht mehr aus dem Land, wo er, wenn ihn keiner rechtzeitig stoppt, gnadenlos deprimierende Fußgängerzonen und immer neue, ebenso riesige wie hässliche Glasfassaden-Shopping Malls errichtet, wo früher heimelige Bibliotheken und Stätten der Kunst zu Bildung und Erbauung einluden. Wo früher mit erhobener Faust ein bronzener Thälmann grüßte und freundlich und dezent an die Idee des Fortschritts der Menschheitsgeschichte gemahnte, hat der Westdeutsche sein unbarmherziges Schreckensregime aus Deichmann-, Nordsee- und Kaufhof-Filialen gebaut, durch die er seit 25 Jahren täglich Tausende und Abertausende hilfloser Ostdeutscher treibt, um sie zum Erwerb von leerem Tand zu zwingen.
Eingebildet und arrogant ist er, doch was hat er vorzuweisen, der Westdeutsche? Seine armselige Leistungsideologie, die zu nichts führt als Bluthochdruck und Burnout-Syndrom; volle Regale mit Waren, die er hat herstellen lassen aus Rohstoffen, die er den Menschen im Trikont abgepresst hat; Altnazis als Bundespräsidenten; das schlechteste Fernsehprogramm der Welt. Das von ihm gepriesene Gesellschaftssystem hat vor allem Arbeitswahn, Missgunst, Eigentumsfetisch, Sozialdarwinismus, Obdachlosigkeit, Krieg und Ausbeutung hervorgebracht.
Was den Wessi allerdings nicht daran hindert, sich als Weltmeister in den Disziplinen Schaumschlägerei, große Schnauze und Prahlerei hervorzutun: Meine Frau, mein Haus, mein Auto. Alles gerinnt ihm zu bloßem Besitz, sobald er danach greift. Auch Menschen sind ihm nur Waren und Mittel zum Zweck: Die Partnerin bzw. der Partner hat vor allem dekorativ, »anschmiegsam« und nützlich zu sein, eine Mischung aus Kuscheltier und Ausstellungsgegenstand, die Kinder werden als erfreuliche Früchte des gelungenen eigenen Expansionsdrangs und hilfreiche Instrumente zur Terrorisierung der Umwelt begriffen, und der Ossi ist dem Wessi nichts als dienstbares Lakaienheer und Hilfsvolk. Da sitzt er, geschmacklos, breitbeinig und mit toten Augen, in seinem mühsam ersparten Lamborghini und hat noch nie einen eigenen Gedanken gehabt. Doch die Bücher, die ihm einen eingeben könnten, hat er eingespart. Denn wo einmal die Bibliothek stand, kommt demnächst ein Parkhaus hin.
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